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Mujinga Kambundji holt WM-Bronze in Doha

«Der Tunnel beginnt erst, wenn ich im Startblock bin»

Die Schweiz jubelt! Mujinga Kambundji sichert sich an der Leichtathletik-WM in Doha im Sprint über 200 Meter sensationell die Bronze-Medaille. Es ist die erste Sprint-Medaille an einer Freiluft-WM in der Schweizer Leichtathletik-Geschichte überhaupt. «SI Sport» hatte im August 2017 mit der Bernerin vor dem Weltklasse-Zürich-Meeting über Geschwindigkeitsräusche und Ausziehrituale gesprochen.

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Mujinga Kambundji

Mujinga Kambundji schafft an der Leichtathletik-WM in Doha die Überraschung und holt sich im Sprint über 200 Meter die Bronze-Medaille.

Robert Eikelpoth

Mujinga Kambundji, wissen Sie, wie schnell Sie während eines 100-Meter-Laufs rennen?
Ich bin nicht sicher, ich glaube 32 Kilometer pro Stunde.

Berechnet auf Ihren Schweizer Rekord von 11,07 Sekunden sind es 32,5. Ein Gepard fliegt mit über 100 über die Steppe. Haben Sie das Gefühl zu fliegen, wenn Sie sprinten?
Wenn ich viel Rückenwind habe, dann erlebe ich das schon mal so. In Clermont in Florida im Trainingslager hat es stark gewindet. Manchmal wie von unten, so dass ich das Gefühl hatte, der Wind trage mich. Sonst im Lauf nicht – denn ich laufe mit viel Kraft. Das fühlt sich eher nicht wie Fliegen an (lacht).

Sie sagen, Sie fühlen sich vor dem Start in einem Tunnel, wo Sie nichts anderes mehr im Kopf haben als den Start. Ab wann?
Der Tunnel beginnt erst, wenn ich im Startblock bin. Vorher bin ich auch fokussiert, muss aber bei der Präsentation noch in die Kamera winken. Wenn ich im Block auf das «fertig» warte, ist alles andere weg. 

Erinnern Sie sich, wann Sie das erste Mal in diesen Tunnel eingetaucht sind?
Ja, das muss an den Schweizer Meisterschaften 2008 gewesen sein, wo ich Vierte über 100 Meter wurde, wie schon in der Halle. Über 200 Meter wollte ich unbedingt besser sein. Vor dem Start kribbelte es zum ersten Mal in den Händen vom Adrenalin, danach erlebte ich es immer wieder. Ich wurde übrigens Zweite.

Mujinga Kambundji

Die Schweizer Sprintkönigin posiert für ein Shooting mit dem schnellsten Landtier.

Robert Eikelpoth

Bei den Langstrecklern gibt es das Runners High, den Flow. Gibt es so etwas auch bei Sprintern?
Nicht gerade ein High. Aber ich denke vor allem an die Europameisterschaften in Amsterdam: Der Start war nicht so gut, ich stolperte beim dritten oder vierten Schritt, danach ist die Erinnerung komplett weg. Erst nach der Ziellinie war ich wieder da. Während des Rennens habe ich gar nichts wahrgenommen. Es war wie ein Blackout.

Das muss gut sein – Sie haben Bronze gewonnen.
Ja, es ist bei mir ein gutes Zeichen, wenn ich im Ziel bin und nicht weiss, was im Lauf passiert ist, wenn es automatisch geht. Normalerweise nehme ich schon etwas wahr, etwa dass ich einen guten Start hatte oder dass ich zurückfalle.

Wenn Sie so fokussiert sind – bringt Sie ein Fehlstart aus dem Konzept?
Sehr sogar! Die Konzentration ist so krass auf einen Moment gerichtet. Wenn es einen Fehlstart gibt, ist mein zweiter Start fast immer schlechter. Dann muss ich aufpassen, die Konzentration nicht zu verlieren. Und ich muss mich zwingen: Bleib mit dem Kopf hier! Frage dich nicht, was der Fehlstart fürs Rennen bedeutet oder ob es Diskussionen gibt!

Manchmal hat man am Wettkampftag müde Beine. Was tun Sie dann, um sich mental aufzupeitschen?
Meistens spüre ich an wichtigen Tagen eine andere Spannung in den Beinen. Natürlich sind die Beine sehr wichtig – aber am Tag selber ist die mentale Verfassung bestimmend. Ich merke das an internationalen Meisterschaften, die sich über eine Woche hinziehen und wo ich fast jeden Tag ein Rennen habe. Selbst am letzten Tag spüre ich, dass ich noch Kraft habe. Aber nach einer zweitägigen Schweizer Meisterschaft bin ich total kaputt. Da sieht man, wie viel sich wohl im Kopf abspielt.

Und wenns nicht ganz so wichtig ist?
An Schweizer Meisterschaften, wo ich weniger nervös bin und dennoch einen guten Lauf im Final zeigen möchte, muss ich mich aufputschen. Ich nehme mir dann ein anderes Ziel vor. Das ist nie eine Zeit. An der SM könnte das sein: Ich möchte einen grossen Abstand zu den anderen haben, das motiviert mich dann.

Sprechen Sie sich dieses Ziel dann vor?
Es ist mehr ein Gefühl, als dass ich das hundertmal selbst wiederhole. Manchmal sage ich mir etwas Technisches: Etwa dass ich mich nach dem Start nicht zu früh aufrichte. Dann wiederhole ich das schon: Dunge blibe, dunge blibe, dunge blibe. In einem Final ist das wieder anders: Da denke ich nicht an solch technische Dinge. Ab und zu schaue ich mir zur Motivation am Tag vor dem Rennen ein Video von einem guten Lauf inklusive der Minuten davor und danach an. Wenn ich heute das Video meiner Bronzemedaille an der EM in Amsterdam ansehe, kribbelt es wieder.

Mujinga Kambundji

Über 200 Meter sah Kambundji zum Zeitpunkt des Interviews im Jahr 2017 realistische Chancen, einmal einen WM- oder Olympiafinal zu erreichen. Jetzt hat sie in Doha WM-Bronze geholt.

Robert Eikelpoth

Wie genau können Sie unmittelbar nach dem Lauf Ihre Zeit einschätzen?
Gar nicht.

Auch nicht, ob der Lauf gut war?
Ich habe ein Gefühl, ob der Lauf gut war oder nicht. Aber manchmal liege ich mit meiner Einschätzung falsch.

Können Sie im Training so schnell laufen wie im Wettkampf?
Nein, nicht einmal annähernd. Mein Trainer sagte mir, dass er bei meinen Anfängen in Mannheim 2013 nicht gedacht habe, dass ich so schnell laufen könne. Im Training war ich halt etwas verträumt und machte nur das Nötigste. Er fragte sich, wie er aus mir eine schnelle Athletin machen könne. Da musste er mich zuerst kennen lernen.

Könnten Sie nicht noch mehr herausholen, wenn Sie im Training so fokussiert wären wie im Rennen?
Ich könnte versuchen, mir einzureden, dass ich genauso konzentriert bin. Aber es ginge nicht. Mein Trainer versucht mich zu fordern oder sagt mir bei Läufen: Wenn du den zweitletzten gut läufst, musst du den letzten nicht mehr machen. Ich versuche mich dann zu puschen, aber ich bekomme es nie so hin wie im Wettkampf. Die gleiche Präsenz im Training zu haben, wäre sowieso viel zu ermüdend. Der Unterschied ist schon krass: An einem Wettkampf läufst du ein- oder zweimal 60 Meter und bist abends so kaputt, dass dir die Beine weh tun. Und im Training absolvierst du fünfmal so viele Läufe, bist aber nie gleich erschöpft. Daran sieht man, wie sehr der Kopf mitläuft.

Sind Sie auch neben der Bahn ein Geschwindigkeits-Junkie?
O ja! Ich war schon mehrmals Fallschirmspringen, in Australien, Neuseeland und Kuba. Da spürst du die Geschwindigkeit und die Schwerkraft so richtig. Bungee-Jumpen war ich ebenfalls schon, das würde ich sofort wieder tun.

Mujinga Kambundji

Die Sprintkönigin liebt Geschwindigkeit und war schon mehrmals Fallschirmspringen.

Robert Eikelpoth

Was ist mit schnellen Autos?
Die interessieren mich. In Deutschland fahre ich schnell. Einmal durfte ich auf dem Heimweg von einem Wettkampf Alex’ (Wilson, Schweizer Rekordhalter über 100 und 200 m, Anm.) Auto fahren. Ich bin nicht mehr sicher, aber es waren wohl gegen 260 km/h auf dem Tacho. Das hat gfägt! Ich bin ja von Nissan gesponsert, und immer wenn ich einen GT-R sehe, denke ich, er wäre cool zu fahren. Auf einer Rennstrecke zu testen zum Beispiel.

Der dritte Bungee-Sprung ist meist nicht mehr so spannend wie der erste. Gewöhnt man sich auch ans Adrenalin, das ein Wettkampftag auslöst?
Nein, das nimmt nicht ab. Das Auf und Ab des Wettkampfs, die Anspannung, die Erleichterung danach – das ist immer wieder genau gleich da. Es wird mir fehlen, wenn ich irgendwann aufhöre. Das tägliche Training hingegen nicht, auch wenn es Spass macht.

Im Fussball kann man alle paar Tage ein Spiel gewinnen. Bei Ihnen steht die persönliche Leistung im Mittelpunkt.
Ja, das ist speziell. Ich kann in einem Lauf Letzte werden und megazufrieden sein. Oder einen Lauf mit einer halben Sekunde Vorsprung gewinnen, und dennoch war er schlecht. Es kommt nicht so aufs Gewinnen und Verlieren an. Trotzdem will ich mich ja mit anderen messen. Früher dachte ich: Wenn die andere Person schneller ist, ist sie halt schneller, was will ich machen? Mit den Jahren habe ich aber gemerkt, dass dem nicht so ist. Klar, wenn Dafne Schippers neben dir läuft, wird es schwierig. Aber wenn jemand auf dem Papier schneller ist, heisst das nicht, dass du keine Chance hast.

Wann haben Sie diese Erfahrung zum ersten Mal gemacht?
Bei Spitzenleichtathletik Luzern 2014, als ich Veronica Campbell-Brown über 200 Meter schlug. Klar, sie lief dort nicht schnell, jede hat mal einen schlechten Tag, aber dennoch! Damals habe ich angefangen, daran zu glauben. Heute will ich jede schlagen, auch wenn es unrealistisch ist. An der WM in Peking 2015 wollte ich zum Beispiel in den Final, das war natürlich unrealistisch. Ich wurde Fünfte im 100-Meter-Halbfinal, schied aus – und war im ersten Moment enttäuscht, obwohl meine Zeit sehr gut war (Sie lief dort den noch heute gültigen Schweizer Rekord, Anm.).

Werden Sie an einer WM oder an Olympia je den Final der besten acht erreichen?
Über 200 Meter ist das ein realistischer Wunsch. In Rio wären 22,49 Sekunden nötig gewesen (ihre Bestzeit seit Juli 17: 22,42). Aber man muss es dann halt im richtigen Moment, also im Halbfinal, auch bringen. Über 100 Meter ist es wirklich schwierig. In den vergangenen Jahren, also in Rio und an der WM in Peking, kamen nicht mal alle weiter, die unter 11 Sekunden liefen.

Von der kürzesten zur längsten Strecke in der Leichtathletik: Was würde passieren, wenn Sie einen Marathon laufen würden?
(lacht) Ich weiss nicht, ob ich das schaffen würde. Jedenfalls nicht joggenderweise. Ausserdem würde ich mich wahnsinnig langweilen. Ganz am Anfang des Wintertrainings machen wir ein paar Dauerläufe, und spätestens nach 15 oder 20 Minuten finde ich es todlangweilig. Nicht einmal wegen der Anstrengung, sondern weil ich einfach keine Lust habe, weiterzulaufen.

Was ist denn die längste Strecke, die Sie je gelaufen sind?
Ein 1000-Meter-Lauf, als ich jünger war (lacht). Beim Joggen war das absolute Maximum wohl 25 Minuten. Okay, vielleicht eine halbe Stunde. Aber da ging es noch bergauf und ich bin spaziert. Und wirklich, wirklich langsam. Ich glaube also, ich würde es körperlich nicht schaffen, einen Marathon zu laufen. Irgendwann müsste ich gehen.

Trainieren Sie auch auf dem Laufband?
Ja. Wenn wir eine Erholungswoche haben, gibts manchmal 20 Minuten Dauerlauf. Oder als ich im vergangenen Jahr nach der Saison viereinhalb Wochen in den Ferien auf Jamaika und Kuba war, war ich im Hotel auch mal auf dem Laufband.

Kennen Sie Ihre Körperzusammensetzung, etwa Ihren Fett- oder Wasseranteil?
Ja, beim letzten Mal hatte ich knapp unter 14 Prozent Fett, das war nach Weihnachten. 13 ist glaube ich schon ziemlich wenig für eine Frau. Sonst weiss ich nichts. Seit ich in Mannheim bin, habe ich an Muskeln zugelegt. Vorher wog ich um die 58, 59 Kilogramm, nun sind es 65.

Im Sprint kämpfen Sie um Hundertstel. Ihre Haare sind aber nicht wirklich aerodynamisch.
Das stimmt, manchmal trage ich sie halb offen. Ich denke aber nicht, dass das etwas ausmacht.

Mujinga Kambundji

Kampf um Hundertstel: Kambundji trägt ihre Haare bei Rennen trotzdem manchmal halb offen.

Robert Eikelpoth

Haben Sie das nie im Windkanal getestet?
Nein. Aber ich trage ja auch Schmuck. Es gibt Sprinterinnen, die riesige Ringe an den Fingern tragen. Bei mir ist es so: Je wichtiger der Wettkampf ist, desto besser will ich aussehen und umso länger benötige ich fürs Styling. Irgendwo habe ich mal gelesen: «Look good. Feel good. Run good». Wenn ich auf dem Platz stehe, selbstbewusst bin und fühle, dass ich richtig gut aussehe, dann hilft mir das mehr als zusammengebundene Haare.

Es gab aber auch die Zeit, als Ganzkörperanzüge für Sprinter, sogar mit Kapuze, Mode waren. Um windschnittiger zu sein.
Ich mag mich an Ryan Bailey erinnern, der einen Ganzkörperanzug trug. Aber es gibt noch etwas zu bedenken, das eine grosse Rolle spielt: Im Training sind wir angezogen, im Wettkampf nicht. Das ist wie ein Ritual: Wie andere ihre Schwimmbrille kurz vor dem Wettkampf anziehen, ziehen wir uns aus, sogar wenn es kalt ist oder regnet. Mit langen Hosen würde ich mich nicht gleich im Wettkampf fühlen, auch nicht gleich gut.

Das Interview erschien in der «Schweizer Illustrierten Sport» vom 4. August 2017.

Von Eva Breitenstein am 24. August 2017 - 14:58 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 13:20 Uhr