Nun sitzt der Mann, schlank und hoch, neben der Frau, die ihn verteidigt, seine Hände auf dem Tisch, die Finger verschränkt, als wollte er beten, es ist der 13. März 2018, Dienstagnachmittag, und der Richter fragt:
Warum, Herr N., warum kam es zu diesen Tötungen? Der Angeklagte, Stoff der Medien seit Tagen und Wochen, schweigt und starrt, sagt endlich: «Um die Tat zu vertuschen.» Er bricht ab, schaut zum hohen Fenster, das bedeckt ist mit schwarzen Tüchern.
«Und aus Angst vor der Schande», sagt Thomas N., geboren im Mai 1983, von manchen Blättern Vierfachkiller geschimpft oder die Bestie von Rupperswil AG. Was für eine Schande? «Dass ich ein Versager bin.» N., schwarzes Haar, dünner Bart, sagt: «Ein normaler Mensch tut nicht, was ich getan habe.»Trotzdem haben Sie es getan – wie erklären Sie sich das?
Ein normaler Mensch tut nicht, was ich getan habe.
120 Menschen lauschen im Theoriesaal der Mobilen Polizei zu Schafisheim, Kanton Aargau, das Bezirksgericht Lenzburg AG sitzt über dem Fall, der Wellen schlug wie vielleicht kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten, STA1 ST.2015.10454: Ein Mann, Thomas N., unbescholten, unauffällig, braver Schweizer Bürger, wohnhaft in Rupperswil, schnitt vier Menschen, die er nicht kannte, wohnhaft in Rupperswil, die Kehle durch.
Der Beschuldigte, steht in der Anklageschrift geschrieben, die auf den Stühlen liegt, habe, obwohl bereits 33 Jahre alt, bis zum Tag seiner Verhaftung am 12. Mai 2016 noch bei seiner Mutter gewohnt, der er vorgab, Student zu sein. Der er, um den Abschluss seines Studiums zu beweisen, Diplome hinlegte, die er gefälscht hatte, Master of Science ULU.
In Wahrheit brach er ab, was er begann, lebte vom Geld der Mutter und verlor sich in den Tiefen des Internets, sah sich Bilder und Filme von Knaben an, Kinderpornografie, Stunde um Stunde – erzählte niemandem davon.
Irgendwann im Frühling 2015 streifte ihn die Fantasie, sich Geld zu beschaffen, zwar nicht zu stehlen, aber zu erpressen. Und die Menschen, die er erpresst hatte, zu töten – eine Fantasie, die zu einer Idee gerann, schliesslich zu einem Plan. Täglich unterwegs mit seinen zwei Hunden, sah er eines Tages einen Jungen am Rand des Dorfes Rupperswil, der ihm gefiel, Davin S., 13 Jahre alt, Thomas N. baute das Kind in seine Gespenster ein.
Der sexuelle Verkehr mit dem Jungen stand im Vordergrund seiner Tat
Die Idee, mit Davin sexuell zu verkehren, sagt jetzt Thomas N. am Tisch der Verteidigung, wurde zum eigentlichen Schwungrad meiner Pläne. Herr N., fragt der Richter, wenn Sie eine Rangliste der Motive liefern müssten, die zu Ihrer Tat führten, welches Motiv käme an erster Stelle? «Das sexuelle», sagt N. Und dann? «Das finanzielle.» Dann? «Dann die Erpressung, und am Schluss die Tötung.» Bereuen Sie, was Sie getan haben? «Absolut.»
Am Morgen des 21. Dezember 2015 klingelte Thomas N. an der Tür der Familie S., zeigte der Frau, die ihm öffnete, Carla S., ein gefälschtes Papier und wies sich als Mitarbeiter des Schulpsychologischen Dienstes aus, an Davins Schule sei ein Mädchen bis zum Suizid gemobbt worden, Davin sei daran beteiligt, nun möchte er gern mit ihm reden. Carla S. bat den Mann zum Kaffee, weckte ihren jüngeren Sohn.
Irgendwann, mit dem Kind allein, drückte N. dem Jungen ein Messer an den Hals, das er mit ins Haus gebracht hatte, fesselte ihn mit Kabelbindern, schob ihn ins obere Stockwerk, zwang die Mutter, ihren älteren Sohn Dion, 19, und dessen Freundin, 21, die bei ihm schlief, zu fesseln und zu knebeln.
Warum, Herr N., warum? Weshalb haben Sie Ihre Pläne nicht aufgegeben?
Sie haben ausgesagt, sagt der Richter, Carla S. sei Ihnen sympathisch gewesen. «Das stimmt», sagt N. Weshalb haben Sie Ihre Pläne trotzdem nicht aufgegeben? Thomas N. schweigt und starrt auf seine Hände, die Finger verschränkt. «Eine schwierige Frage», sagt er. «Es war mir unmöglich, zu denken: So, fertig jetzt.» Weshalb? N. streicht sich über die Stirn, das Gesicht. «Ich war wie in einer Blase. Am liebsten wäre ich stundenlang in diesem Haus geblieben, ohne mich zu entscheiden, wie es nun weiterging. Die ganze Verantwortung lag bei mir. Das einzig Mögliche, was mir blieb, war die Tötung.»
Kurz nach neun Uhr am 21. Dezember 2015 befahl Thomas N. Carla S., am Bankomaten der Hypothekarbank Lenzburg in Rupperswil möglichst viel Geld abzuheben und anschliessend bei der Aargauischen Kantonalbank in Wildegg – bevor sie losfuhr, fotografierte er sie mit seinem Handy und log, das Bild schicke er nun einem Komplizen, der vor der Bank warte. Gegen halb elf kehrte die Frau zurück, 1000 Euro im Gepäck und 9850 Schweizer Franken.
Er dachte nicht, dass seine Fantasien Taten werden könnten
Deswegen mussten vier Menschen sterben? «Krank!», sagt N. Was meinen Sie damit?, fragt der Richter. «Ein normaler Mensch tut so etwas nicht.» Aber Sie haben es getan. Wie erklären Sie sich das? «Ich kann es mir nicht erklären. Ich hatte mir damals, vor der Tat, ständig eingeredet, meine Fantasien, mein Konstrukt, sei so unvorstellbar, dass ich keine Angst zu haben bräuchte, ich könnte es je in die Tat umsetzen. Aber ich tat es.»
Es war für mich undenkbar, meiner Mutter mein Versagen zu gestehen
Weshalb? «Wegen meiner damaligen Lebenssituation. Wegen meiner Unfähigkeit, Hilfe zu suchen oder zuzulassen. Wegen meiner Arroganz. Wegen meines Selbstbildes, das ich damals hatte.» Herr N., Sie haben ausgesagt, es sei Ihnen leichter gefallen, die Tat zu begehen, als vor Ihre Mutter zu stehen und ihr zu sagen: Mama, in all den Jahren habe ich nicht mal einen Bachelor geschafft. «Entschuldigung, das habe ich so nicht gesagt. Es war für mich undenkbar, meiner Mutter mein Versagen zu gestehen.»
Und was wäre geschehen, fragt der Richter, wenn Sie es getan hätten? «Sie hätte mich, weint N., in den Arm genommen und gesagt: Wir finden einen Weg.» Sie haben noch Kontakt zu ihr? «Sie ist meine einzige Bezugsperson, sie besucht mich im Gefängnis, wir reden, wir telefonieren, ich will sie nie mehr belügen, sie weiss alles, endlich weiss sie alles von mir.»
Seine Vorstellung des Missbrauchs war schöner als die Realität
N. fesselte Carla S., zwang ihren Jüngsten in sein Zimmer, verging sich an ihm, fotografierte und filmte, was er tat. «Der sexuelle Missbrauch war nicht schön, so ganz anders, als ich es mir gedacht hatte, jenseits dessen, was ich erhofft hatte. In meiner Vorstellung war der Missbrauch kein Missbrauch, obwohl ich wusste, dass es einer war. Ich bin pädophil, ja.»
Schliesslich schnitt Thomas N. den vier Menschen, die gefesselt auf ihren Betten lagen, die Kehlen durch, übergoss sie mit Fackelöl, das er mitgebracht hatte, zündete sie an und verliess das Haus.
Herr N., wieso ein Messer als Tatwaffe?
«Weil ich dachte, das sei am einfachsten. Und schmerzfrei für die Opfer.»
Wie fühlten Sie sich, als Sie töteten?
«Schlecht.»
Steigerten Sie sich in einen Blutrausch?
«Nein.»
Wie fühlten Sie sich, nachdem Sie Feuer gelegt hatten?
«Leer.»
Er führte ein Buben-Büchlein
146 Tage nach der Tat, am 12. Mai 2016, verhafteten Polizisten Thomas N. in einem Aarauer Café – er gestand sofort. In seiner Wohnung fanden sie einen Rucksack, darin eine alte Armee-pistole, ein Feueranzünder, Stricke, Kabelbinder, Klebeband, Handschuhe, Fackelöl. Und ein Büchlein mit den Namen von elf Jungen, alle 11 bis 15 Jahre alt – zwei davon, einem im Kanton Bern, einem im Kanton Solothurn, hatte N. bereits nachgestellt, ihre Tagesabläufe erforscht.
Sie bestreiten, sagt der Richter, dass dies Vorbereitungshandlungen für weitere Verbrechen waren?
«Das waren keine Vorbereitungshandlungen.»
Sondern?
«Schwierig zu erklären. Ich packte den Rucksack neu, um mich zu beruhigen. Um mir einzureden, es sei alles gut, nichts Schlimmes passiert. Ich kaufte diese Dinge nicht, um wieder zu töten.»
Sie kennen die zwei psychiatrischen Gutachten, die über Sie erstellt wurden?
«Ich habe sie genau gelesen. Und irgendwie tun sie mir gut. Bringen erstmals so etwas wie Ordnung in mein Leben. Zum ersten Mal erfahre ich Verständnis. Oder Hilfe.»
Das ist kein Genuss, nur Scham. Ich möchte, dass es aufhört
Herr N., alle Zeitungen schreiben über Sie, alle Stationen berichten – geniessen Sie das?
«Da ist kein Genuss, nur Scham, nichts als Scham. Ich schäme mich, ich schäme mich extrem. Ich möchte, dass es aufhört. Das Einzige, was ich tun kann, ist hier zu stehen und die Fragen zu beantworten, die Sie mir stellen. So weh sie auch tun. Und ich weiss, dass ich kaum etwas erklären kann. Weil ich mich selber nicht verstehe.»
Herr N., was denken Sie darüber, dass Sie nun im Gefängnis sind?
«Das habe ich verdient, sagt Thomas N., man spuckt zwar auf mich, weil ich pädophil bin, man verachtet mich – aber ich gehöre ins Gefängnis.»
Den Akten, sagt jetzt der Richter, habe er entnommen, wie er, Herr N., falls er denn wünschen könnte, sich sein Alter vorstelle, vor einem Kamin sitzend, ein Glas Wein in der Hand, den Hund neben sich. N., geboren im Mai 1983, nickt.
Gerichtsreporter Erwin Koch, 61, verfolgt für die Schweizer Illustrierte den Prozess in Schafisheim AG. In der nächsten SI analysiert Jurist und Autor Erwin Koch den weiteren Verlauf des Prozesses und das Urteil gegen Thomas N.