Es ist kurz vor acht Uhr morgens, als Nico Hischier aus dem Intercity steigt. Um halb sieben ist er in seiner Heimat Naters losgefahren. Mit dem Bus nach Brig. Von dort mit dem Zug nach Bern. Vom Wallis in die «Üsserschwiiz» – wie Walliser den Rest der Schweiz auch nennen.
Mitten unter den Pendlern läuft er unter dem gläsernen Baldachin zum Tram, das ihn zur Eishockey-Arena hinausbringen wird. Keiner dreht sich um, keiner spricht ihn an. Der 18-Jährige hält sich an einer Stange fest, als das Tram surrend losfährt. Er erzählt, wie er in diesen Strassen gerade erst den Führerschein gemacht hat und wo die Tücken inklusive der gefährlichsten Rechtsvortritte sind.
Weltgrösstes Eishockey-Talent seines Jahrgangs
Fürs Protokoll: Der junge Mann, der gerade eine Lektion in Verkehrssicherheit gibt, ist der «first overall pick» im NHL-Draft 2017. Für jene, die sich weder in der englischen Sprache noch im Eishockey zu Hause fühlen, heisst das: Er wurde in diesem Sommer zum weltgrössten Eishockey-Talent seines Jahrgangs gewählt.
Die New Jersey Devils wählten einen 18-jährigen Stürmer aus Naters vor allen anderen. Er steht auf einer illustren Liste von früheren Erstgewählten. Eine Liste, welche die Namen von Sydney Crosby, Alexander Owetschkin oder Patrick Kane enthält. New Jersey ist den ganzen Sommer über verrückt vor Vorfreude.
Jedes Medium im Grossraum New York bis hin zur «New York Times» steht Schlange für einen Termin bei ihm, dem ersten westeuropäischen Nummer-1-Draft seit dem Schweden Mats Sundin 1989. Seit dem Jahr 2000 gab es nur Kanadier, Amerikaner und drei Russen (Kowaltschuk, Owetschkin, Jakupow), welchen diese Ehre zuteil wurde. Und nun: Nico Hischier aus Naters. Das ist, als ob sie in der New Yorker Metropolitan Opera Purzelbäume schlagen, weil einer, der zuvor Schwänke fürs Laientheater Oberwallis aufführte, über den grossen Teich kommt. Vielleicht nicht ganz so arg.
Experten schwärmen von Hischier
Hischier zeigte in Nordamerika schon Kostproben. Ab Herbst 2016 spielt er eine Saison lang in der kanadischen Stadt Halifax im Juniorenteam der Mooseheads. Und er braucht keine Anlaufzeit. In 57 Spielen gelingen ihm 86 Punkte (38 Tore, 48 Assists). Er schiesst nicht nur die Liga in Grund und Boden, sondern spielt auch an der U20-WM gross auf. Die Experten sehen, wie viel Wert einer mit dieser Technik und Übersicht hat.
«Es gibt viele smarte Spieler, aber bei Nico ist alles fliessend», sagt etwa Craig Button vom kanadischen Sportsender TSN. «Er ist automatisch immer am richtigen Ort. Wenn man ein Video von ihm anschaut, sagt man nur noch: Wow! Seine Hände sind so gut, er bringt die Gegner automatisch aus dem Gleichgewicht.»
Nicht nur aufgrund seiner sportlichen Fähigkeiten sind die Scouts begeistert
In der Einschätzung der beeindruckten Scouts steigt Hischier, der mit der Nummer 13 auf der Center-Position spielt, im Verlauf der Saison so hoch, dass er von den Devils als Erster gewählt wird. Auch wegen seines Charakters, auch wegen seines stabilen Elternhauses.
Der Hintergrund-Check dieser Organisationen ist vielseitig und penibel. Ein Fehlentscheid kann sie um Jahre zurückwerfen. Von Nico sind sie überzeugt. Für die Fans ist er der Heilsbringer. Aber in der Eishockey-Stadt Bern dreht sich kein Kopf nach ihm. Nicht einmal ein verstohlener Blick geht weg vom Smartphone in seine Richtung. Vielleicht haben sie einen künftigen Superstar schlicht nicht in ihrem 9er-Tram Richtung Wankdorf erwartet.
Der junge Schweizer zeigt viel Feuer
Hischier hat ein Camp mit den Devils hinter sich. Und jetzt macht sich der ehemalige Novize und Elite-Junior des SC Bern im Sommertraining des Meisters fit für die NHL. 81 Kilo sind bei ihm auf 183 Zentimeter verteilt. Er hat körperlich zugelegt. Nach 90 Minuten auf dem Eis gehen die meisten duschen. Nico aber zirkelt mit zwei anderen noch lange Pucks aufs Tor, versucht Ablenker, spitze Winkel. Noch einen, noch einen, noch einen. So viel Feuer macht einen nicht zum Nummer- 1-Draft, aber wahrscheinlich hilft es.
«Schweizer Illustrierte Sport»: Sie haben Extraschichten gemacht. Unterscheidet Sie das von der Masse?
Hischier: Solche Spielchen gehören dazu. Wir Jungen müssen am Ende immer Pucks sammeln. Also verbinden wir das mit ein paar Versuchen.
Der Nummer-1-Draft muss die Pucks sammeln? Das nennt man Demut.
Ja. Ich bin zwar der Nummer-1-Draft, aber habe bei den Profis noch nichts erreicht, habe noch kein NHL-Spiel hinter mir. Es gibt keine Extrawürste.
Ihr Manager Gaetan Voisard hat gesagt, Sie seien ein Perfektionist.
Es stimmt, wenn ich im Eishockey etwas verbessern muss, versuche ich es so lange, bis ich es kann. Wenn der Trainer sagt, ihr macht 20 Kniebeugen, mache ich nicht 19. Wenn wir Kreisel drehen, gibt es keine Abkürzung.
Was für ein Charakter sind Sie?
Sicher einer, der auch über Emotionen funktioniert. Das zeigte sich schon als Kind. Wenn wir verloren, wurde ich sauer. Da flog der eine oder andere Stock durch die Gegend. Aber ich habe im Lauf meines Lebens gelernt, Niederlagen zu akzeptieren. Auch wenn ich nach wie vor sehr ungern verliere.
Wenn Sie spielen, sieht vieles leicht aus. Fühlt sich das auch so an?
Es gibt Phasen, in denen alles aufgeht. Du schiesst von der Torlinie, und irgendwie prallt der Puck an einen Schlittschuh und geht rein. Das geht aber auch in die andere Richtung. Wenn nichts geht, bricht dir vor dem leeren Tor auch noch der Stock. Ich sage immer: Du gehst mit Freude spielen, egal, was passiert.
Sie hatten in dem einen Jahr in der kanadischen Juniorenliga herausragende Skorer-Statistiken. Waren Sie jemals überrascht, wie dominant Sie waren?
Ich kenne natürlich meine Stärken. Ich weiss, wenn alles rundherum stimmt und ich mein perfektes Hockey abrufen kann, dann kommen die Punkte von selbst. Aber es braucht immer Coaches, welche dir vertrauen, und sehr gute Mitspieler. Bei der U20-WM stimmte alles, weil ich in ein Team von Kollegen kam, in dem es auf und neben dem Eis sehr gut harmonierte. Für mich gilt: Je wohler ich mich fühle, desto besser spiele ich.
In den Draft-Jahren 2015 und 2016 wurden mit Connor McDavid – der bereits McJesus genannt wird – und Auston Matthews zwei Jahrzehnttalente als Erste gewählt. Beide dominieren bereits in ihren Teams. Ist es ein Fluch, nach diesen beiden die Nummer 1 zu sein?
Die Meisten wissen, dass die beiden die ganz grossen Ausnahmen sind. Es ist ein Zufall, dass zwei so talentierte Spieler auf zwei aufeinanderfolgende Jahrgänge fielen. Ich versuche, mich selber nicht mit ihnen zu vergleichen. Das wäre hoch gegriffen. Und es würde mich lähmen. Ich weiss, was mir guttut, was ich kann. Ich muss mit Freude spielen, keine Kunststücke probieren.
Die New Jersey Devils darben sportlich seit Jahren. Sagen Sie, warum das für Sie trotzdem die richtige Adresse ist.
Sie wollen langfristig ein Top-Team aufbauen. Sie haben viel Talent aus früheren Drafts. Ich bin ein Teil davon. Das ist spannend.
New Jersey ist im Vergleich zu New York nicht besonders chic. Der Neid auf die Big City ist gross. Spüren Sie, dass alle Leute auf einen neuen Star warten, mit dem sie besonders hoch fliegen können?
Ich spüre von jeder Seite Erwartungen. Von den Medien, vom Klub, von den Fans. Wichtig ist für mich, dass mir das Team keinen Druck macht. Sie sagen, ich soll mein Spiel machen, nicht zu weit schauen.
Ein Teenager aus den Bergen wechselt in die Grossstadt. Ist das schwierig?
Das muss ich herausfinden. Ich kann mir vorstellen, dass ich mich wohlfühle. Aber ich werde mich in meiner Freizeit ausklinken.
Sie wurden schon zum Times Square gefahren. Ist das Ihre Welt?
Für mich war das der erste New-York-Besuch. Wir fuhren da hin, stiegen aus. Ich war baff. Dann musste ich für Fotos posieren und wieder einsteigen, weil der Zeitplan eng war. Aber ich werde mir das noch genauer ansehen.
Was bedeutet für Sie Lebensqualität?
Ich brauche einen gewissen Freundeskreis. Und dann muss ich mich in meiner Wohnung wohlfühlen. Wald und Wiese brauche ich nicht. Ich habe eine Saison in Halifax verbracht. Das ist zwar nicht New York, aber mit knapp 400 000 Einwohnern auch kein Dorf. Ich werde also keinen Schock erleiden.
Ihr Juniorenteam produzierte ein Video über Sie, in dem es heisst: «Es ist nicht einfach, wenn zwischen dir und deiner Familie ein Ozean liegt.» Hatten Sie Heimweh?
Klar vermisste ich die Schweiz und meine Freunde. Aber ich ging schon mit 15 weg. Auch wenn ich nur in Bern war. Es war trotzdem die Trennung von der Familie. Nach drei, vier Wochen hatte ich damals mehr Mühe. In Halifax war ich es bereits gewohnt, allein zu sein.
Als 17-Jähriger auf einem fremden Kontinent, das ist trotzdem aussergewöhnlich.
Es war ein grosser Schritt. Aber ich wollte ihn unbedingt machen. Es fiel mir leichter, weil mich meine Eltern unterstützten. Und meine Schwester Nina kam für zwei Monate zu mir. Das tat mir gut. Ich spielte sofort besser.
Wie wichtig war Ihr Bruder Luca und seine Entwicklung im Eishockey – er spielt beim Meister SC Bern – für Sie?
Er war sehr wichtig. Schon als Kind wollte ich tun, was er macht. Er war immer ein Idol. Und ich schaue immer noch zu ihm auf. Wenn mich auf oder neben dem Eis irgendetwas beschäftigt kann ich zu ihm gehen.
War es für ihn keinen Moment schwierig zu sehen, dass dem kleinen Bruder möglicherweise eine Weltkarriere bevorsteht, während ihm das wohl verwehrt bleibt?
Ich glaube nicht. Er gönnt mir die Chance von Herzen. Er freut sich für mich. Er ist ein super Hockeyspieler, der ja auch erst 22 Jahre alt ist und seine Karriere machen wird. Eifersucht kennt er überhaupt nicht.
Und wenn Sie Freunde oder Verwandte treffen, dreht sich da nicht alles um Sie?
Natürlich haben sich nach dem Draft viele für mich interessiert. Aber gerade in unserer Verwandtschaft erkundigt sich jeder, wie es Luca oder Nina geht. Ich bin einfach der Nico, nicht der Nummer-1-Draft.
Was ist Ihre erste Erinnerung ans Hockey?
Als ich mit meiner Schwester nach Visp in die Hockeyschule gegangen bin. Zuerst mussten wir Schlittschuhfahren lernen, bevor sie uns einen Stock gaben. Soweit ich mich erinnern kann, jammerte ich, weil ich einen Stock wollte. Meine Schwester hörte dann auf – und ich machte trotz dem ersten Frust weiter. Ich war drei oder vier.
Sie gelten als sportliches Multitalent. Was haben Sie alles ausprobiert?
Ich ging mit Nina auch ins Kunstturnen. Dort hörte dann ich auf, und sie machte weiter. Keine Ahnung, ob ich es da zu etwas gebracht hätte. Dazu habe ich Tennis, Fussball und Unihockey gespielt. Ich probierte es auch im Judo. Das war zwischen 6 und 8. Zwischen 8 und 12 habe ich parallel nur noch Eishockey und Fussball gespielt. Und natürlich bin ich Ski gefahren und ging snowboarden.
Wann kam die Erleuchtung, dass Sie auf Eishockey setzten?
Eine Erleuchtung war es nicht. Es zeigte sich einfach: Ich hatte am Eishockey am meisten Spass. Mit 12 kam der Entscheid: Fussball oder Hockey; er fiel mir nicht allzu schwer.
Hatten Sie als Kind NHL-Poster hängen?
Nein. Überhaupt: Mein erstes NHL-Spiel sah ich in Ottawa gegen Edmonton. Da war ich 12. Mein zweites sah ich diesen Frühling, Nashville gegen Pittsburgh. Ich sah in meinem Leben also erst zwei NHL-Spiele live.
In der NHL gibt es Schweizer Stars wie Roman Josi und Nino Niederreiter. Haben Sie sich ausgetauscht?
Den ersten Kontakt hatte ich 2016, bevor ich nach Halifax ging. Ich durfte mit Josi, Streit und Weber eine Woche trainieren. Von ihnen kann ich auch jetzt noch viel lernen.
Josi, Niederreiter, Andrighetto, Fiala, Bärtschi – und nicht zuletzt künftig Sie: die Schweiz in Bestbesetzung könnte eine aussergewöhnliche Nati stellen.
Das ist eine spannende Ausgangslage. Aber man darf die Spieler, die in der Schweiz spielen, nicht vergessen. Für mich wird die Nati sicher ihren Platz haben. Die U20-WM waren Highlights für mich. Wenn ich ein Aufgebot erhalte, wird mich das stolz machen.
Roman Josi und Mark Streit gehören ebenfalls zu den Fans des jungen Wallisers
Welche Bedeutung der Nummer-1-Draft Hischier hat, wird auch an der Galanacht des Schweizer Eishockeys deutlich. Nicht Roman Josi, der eine überragende Saison in Nashville spielte, oder Mark Streit, der mit Pittsburgh den Stanley Cup gewann, wird der Hockey Award überreicht, sondern dem 18-jährigen Hischier. Auf den Youngster angesprochen, kommen beide Stars ins Schwärmen.
«Er ist technisch wahnsinnig gut, hat ein unglaubliches Spielverständnis» sagt Roman Josi. «Das sahen wir schon im letzten Sommer. Für seine 17 Jahre war er extrem weit. «Die Nummer 1 wirst du nicht einfach so. Damit du die Eins bist, musst du gewaltiges Potenzial haben.»
Auch Mark Streit sagt: «Es ist gigantisch, dass er als Erster gedraftet wurde.» Auf die Frage, ob Hischier eine Weltkarriere machen wird, hält er eine Sekunde inne. «Nino Niederreiter hat es richtig gesagt: Nico hat riesige Qualitäten. Aber wenn du den Durchbruch schaffen willst, musst du sehr, sehr hart arbeiten. Das gilt für jeden.» Trauen Sie ihm das zu? «Absolut.»