In der Geschichte der Mode ging es immer darum, seinen Stil zu finden. Kleidung sollte die eigene Persönlichkeit unterstreichen, die Haltung zum Leben ausdrücken. Nicht nur Frauen, auch Männer machen sich Gedanken darüber, was sie tragen. Sogar Kinder entwickeln früh modische Vorlieben und Abneigungen, lange bevor sie lesen können. Mode ist Selbstdarstellung. Um eine zu frühe Fokussierung auf Kleidung zu vermeiden, gibt es in England Schuluniformen. Wenn alle dasselbe tragen, ist Ruhe im Karton, so der pädagogische Ansatz. Oft wird im engen modischen Korsett persönliche Kreativität aber erst recht gefördert.
Seit ein paar Jahren scheint sich das Verständnis von Stil jedoch zu verändern. Wenn wir durch die Innenstädte flanieren, treffen wir immer öfter auf einen Einheitslook. Es scheint, als hätten sich alle Frauen zwischen zwölf und sechzig bei der Wahl ihrer Kleidung abgesprochen. Warum bloss tragen plötzlich alle freiwillig eine modische Uniform?
Zum aktuellen Look von sehr jungen Frauen gehört scheinbar zwingend ein enges, bauchfreies Top, ärmellos oder mit langem Arm in Schwarz oder Beige. Dazu eine hochgeschnittene Baggy-Jeans und an kühleren Tagen ein Oversize-Blazer drüber. Ob klein, gross, dick oder dünn – diesen Look führen alle aus. An den Füssen tragen sie klobige weisse Dad Sneakers. Dabei sehen diese Treter an wirklich niemandem gut aus.
Frauen ab zwanzig stehen auf einen bestimmten Schlappen aus Leder, ursprünglich vom Luxuslabel Hermès kreiert. Aber an den allermeisten Füssen tauchen billige Kopien auf. Und wo kann man die Fakes bestellen? Auf Instagram, der neuen Mode-Inspirationsquelle. Es gibt sie in allen Farben von vielen Anbietern aus Fernost.
Als Fake-Version gibt es seit einigen Jahren auch den begehrten Dior-Shopper zu kaufen, an allen Stränden dieser Welt, zum Teil als recht gute Replika, für plus/minus 100 Franken. Natürlich kehrt kaum jemand ohne den Shopper aus den Ferien zurück, und schon ist er omnipräsent unterwegs.
Früher galt unter Modebegeisterten das Credo, dass man sich mit Trends auseinandersetzen muss, um Stil zu entwickeln. Man musste Trends erspüren, statt sie nur zu kopieren. Diejenigen waren im Modekosmos die Kings und Queens, die Trends in versteckten Winkeln erkannten, etwa den Sneaker an den Füssen von Oasis-Sänger Liam Gallagher sahen und sofort wussten: Das ist er! Der Sneaker mit den drei Streifen tauchte zaghaft an Trendsettern auf. Es gab nicht Millionen von Influencern, die ihn sofort auf den digitalen Plattformen bestellten und inszenierten.
In den 1990ern setzte das absolute It-Model Kate Moss Trends. Auch Madonna löste Mode-Booms aus. Trug die Pop-Queen eine Fendi-Baguette, war die Tasche sofort ausverkauft. Um trendy zu sein, reichte es aber nicht, sich an Stil-Ikonen zu orientieren. Oder zum Kiosk zu rennen, um ein Exemplar der britischen «Vogue» zu ergattern und zu studieren. Nein, man musste sich kulturelles und gesellschaftliches Wissen aus Büchern und Filmen aneignen. Die Pagenfrisur von Uma Thurman im Tarantino-Kultfilm «Pulp Fiction» wollten alle – aber nur wenige sahen damit auch cool aus. Es brauchte Persönlichkeit und Fingerspitzengefühl im Zusammenspiel mit Kleidung, Frisur und Make-up. Auch das Foto einer Stil-Ikone aus vergangenen Tagen, etwa der Künstlerin und Schauspielerin Veruschka aus den 1970er-Jahren, konnte die eigene Lust des modischen Entdeckens ankurbeln.
Einst galt der Anspruch: Ich bin die Erste, die diese Saison eine bestimmte Farbe trägt. Heute verlangt der Zeitgeist, auf Nummer sicher zu gehen. Wenn nun Influencer und Modeplattformen täglich zeigen, was gerade in ist, folgen alle blind. Sie hoffen, auf diese Art selber viele digitale Likes zu erhalten. Junge Menschen wollen geliebt werden, schön sein, dazugehören. Das ist nicht neu. Nur: Heute orientieren sich alle auf denselben Plattformen, entnehmen dem Internet, was als schön gilt.
In einer komplizierten Welt will man es sich so leicht wie möglich machen? Das würde zumindest die Birkenstock-Latschen erklären, die überall en masse auftauchen – und das It-Monster «Labubu», das an allen Taschen baumelt.
Lange war Fast-Fashion böses Sinnbild für unreflektierten Konsum, billige Massenware und schlechte Produktionsbedingungen. Inzwischen produzieren Ultra-Fast-Fashion-Marken wie Shein, Trendyol oder Temu wöchentlich Zehntausende neuer Teile, um die Massen in aller Welt zu beliefern. Es ist, als wollten wir am Ende alle aussehen wie eine Kopie der erfolgreichsten Menschen im Netz.
Nun tauchen mit dem Winter die Luftmatratzen-Daunenmäntel wohl wieder auf, getragen zu Boots mit Autoreifen-Sohlen. Aber vielleicht haben wir Glück, und Kendall Jenner hat sich den Sommer über in Bildbände von Stilikonen vertieft und trägt dieses Jahr einen individuellen Mantel von gutem Schnitt und guter Machart. La moda è mobile. Und die Hoffnung stirbt zuletzt.