Am Ostermontag starb in Rom der Papst und in Dübendorf der Literaturpapst Peter von Matt. Er war der letzte klassische Intellektuelle vom Format eines Max Frisch oder Friedrich Dürrenmatt. Dem Literaturprofessor gelang es, seine Liebe zum Lesen weit in die Bevölkerung zu tragen, er war eine Art öffentliches Gewissen der Schweiz: 2009 hielt er eine 1. August-Rede, in der er sowohl die Linke kritisierte, die in Tell nur einen hohlen Mythos sieht, als auch die Rechte, die Tell zu einem Denkmal erstarren lässt.
Genüsslich schilderte von Matt einerseits die Schönheit des Rütli, andererseits den donnernden Schwerverkehr unter der Wiese im Berg, der die Schweiz mit der Welt vernetzt. Er erinnerte an den einstigen Handel mit dem grössten Bodenschatz der Schweiz: junge Männer, die auf den Schlachtfeldern Europas verkauft und verscharrt wurden. «Die Heimat der Schweiz ist Europa.»
Von Matt brachte den ideologisch erstarrten Tell wieder in Bewegung als jenen gesetzlosen Säumer und Schmuggler, der zwischen Norden und Süden vermittelt – denn Tell ist wie der Literaturkritiker, der zwischen Werk und Leserin vermittelt, ein Grenzgänger, immer bedroht vom Absturz. Das war auch von Matts Bild von unserem Wohlstand am Abgrund des Bösen.
Matt hat den Autor Peter Bichsel immer verteidigt
Um die Schweiz von heute zu deuten, schlug er scheinbar verstaubte Bücher auf: Im Gedicht «Schweizerdegen» schildert Gottfried Keller die Schweiz als Wirtshaus, das alle Fremden empfängt, um sie unter dem Lachen der Wirtin Helvetia und dem blutrot strömenden Wein zu töten. Das Blutgeld, das wir alle verdrängen, hat von Matt mit einem Klassiker ans Licht geholt.
So wurde Peter von Matt – wie Peter Bichsel, der kurz vor ihm starb – zur wichtigen Stimme: So wie Bichsel in seinen Kolumnen für die «SchweizerIllustrierte» seine Liebe zur Schweiz, die tränenselige Sehnsucht nach Schwingfesten, die Freude über Schweizer Sieger an der Tour de Suisse immer mit kritischer Brechung und witzigen Paradoxen schilderte, verteidigte von Matt seinen Freund gegen den Vorwurf, nie einen richtigen Roman zu schreiben: «Romane schreiben kann jeder, eine gute Seite Prosa schreiben wie Bichsel fast keiner.»
Kritik für den Schweizer Buchpreis
Als von Matt 2012 für sein Buch «Das Kalb vor der Gotthardpost» den Schweizer Buchpreis erhielt, polterte Elke Heidenreich, dass sein Buch für die meisten Leser unverständlich und der Preis nur für Autoren gedacht sei, nicht für Kritiker. Das Buch, das am Tag zuvor prämiert worden war, hatte sie natürlich noch nicht lesen können … So war es ein Leichtes für mich, für von Matt in die Bresche zu springen als wäre ich Winkelried: Denn Literatur braucht auch liebende Vermittler. Und kaum jemand hat so schöne Kritikerprosa geschrieben wie von Matt: Seine theoretischen Texte sind immer auch so geschliffen wie eine gute Novelle. Lesen Sie Bichsel und von Matt!
«Romane schreiben kann jeder, eine gute Seite Prosa schreiben wie Bichsel fast keiner.» Peter von Matt
Walzer für niemand
Wenn ein Star ein Buch schreibt, fragt man sich oft: Muss das sein? Für Sophie Hunger ist die Antwort: Ja, es muss! Denn über dem Bogen und Boden dieser Liebesgeschichte der Erzählerin, die mit ihrem Durchbruch in Paris zerbricht, wuchsen die Songtexte, für die sie so berühmt ist wie für ihre Stimme. Und für die findet sie eine eigene Sprache. Dazwischen wird die Geschichte der Walser entfaltet, die die karge Bergwelt zwischen Davos und Monte Rosa besiedeln – im Schnee, der mit zehn Dezibel fällt. Wie Sophie Hunger dies beschreibt und dabei unsere Ohren öffnet – wunderbar.Sophie Hunger, Kiepenheuer & Witsch
ZVGDie blutige Kammer
Krass und kitschig, sinnlich und extrem: Es braucht Mut, die radikale Prosa von Angela Carter wieder aufzulegen, die 1979 die linientreuen Feministinnen schockierte und nun von der jungen Kultautorin Mithu Sanyal verteidigt wird. Zehn Erzählungen wandeln klassische Märchen ab: Brutal wie «Schnee-wittchen», rührend wie «Die Schöne und das Biest», opulent und orgiastisch wie «Blaubarts Zimmer». Märchen für Erwachsene, sehr erwachsene!Angela Carter, Suhrkamp
ZVGMenschenkunde
Dass der frühere Feuilleton-Leiter der NZZ über so viel Witz verfügt, überrascht nur die, die ihn nicht kennen. Das Sprungbrett für seine philosophischen Kippfiguren über unser Leben und Denken, über unseren Alltag und die letzten Fragen liefern jeweils Vignetten aus «Tim und Struppi», die er am Ende der 33 Reflexionen kommentiert und aus uns regelrechte «Tintologen» machen, wie die französischen Fans von Hergés «Tintin» heissen. Tiefsinn, mit leichter Feder, wie vom zeichnenden Meister selbst!Martin Meyer,
ZVGTessiner Erzählungen
Anstatt in den Opel Ascona zu steigen, schlägt man besser dieses Buch auf: Hier taucht man in jenes «echte» Tessin ein, nach dem wir uns bis heute sehnen. Aline Valangin war eine moderne Frau, die am Fuss des Monte Verità in freier Liebe lebte und als Psychoanalytikerin die Abgründe der Seele kannte. Das nutzt sie bei ihren Miniaturen über das Leben in den Dörfern des Onsernontals mit einem zärtlichen Blick auf eine untergehende Welt.
ZVGStefan Zweifel ist Journalist, Übersetzer und Literaturkenner. In seiner Buchkolumne in STYLE verrät er seine Lieblingslektüre.