Immer wieder preisen Kritiker wie Denis Scheck, genüsslich mit der Zunge schnalzend, Bücher als «Delikatesse» oder «literarischen Leckerbissen» an. Und jeder von uns weiss, wie es ist, wenn ein Krimi so spannend ist, dass man ihn einfach «verschlingen» muss, auch wenn uns dann der brutale Schluss noch lang «im Magen liegt», während man zarte Liebesgedichte eher in kleinen Dosen geniesst wie Tapas, die man auf der Zunge zergehen lässt.
Dass Bücher gern mit Essen verglichen werden, liegt natürlich daran, dass sich die Sprache und die Nahrung im Mund treffen. In ihm überlagern sich Worte und Essen seit unserer Kindheit – «Mö mö mö», so zeichnete vor über hundert Jahren die Pionierin der Kinderpsychologie, Sabina Spielrein, das scheinbar sinnlose Gebrabbel der Säuglinge auf und verglich den Spracherwerb mit dem Saugen an der Brust der Mutter.
Diese Idee übernahm dann C. G. Jung, dessen 150. Geburtstag gerade auf allen Kanälen gefeiert wird. Als er einmal in den Schweizer Bergen spazieren ging, traf er eine Frau, die den grossen Psychologen erkannte. Er fragte sie, ob sie seine Bücher kenne. «Das sind keine Bücher, das sind Brote.» Er war geschmeichelt: Sie sah in ihm einen Bäcker von spirituellem Brot. Nun, den Teig hatten oft andere geknetet – wie die von ihm verstossene Geliebte Sabina Spielrein, die seinen letzten Kuss wohl eher als Biss empfand und sich wieder dem Brabbeln der Kinder zuwandte.
Mit ihren zahnlosen Schreien tief aus dem Rachenraum wecken die Babys die Eltern mit einem endlosen: «Ähhiääh, ähhää». Bald bringen die Konsonanten mehr Sinn hinein: «Wawawäh mömöhää amamäh – Wo ist Mama?» Und bald beginnt das Kind richtig zu sprechen und richtig zu essen – «Mama» wird zur Wortinsel wie «Milch».
Und so entwickelt sich unsere Sprache und Grammatik wie die Kochkunst vom Brei zum Gourmetmenü: Gewürze lagern sich um das Kalbsplätzli wie Adjektive um ein Substantiv. Und wenn es gebraten wird und schön brutzelt, kommen die Verben ins Spiel. Der erste Satz ist da! «Knuspriges Plätzli in Rahmsauce.» Und neben diesem kulinarischen Satz liegt als kleine Beilage auch schon ein Nebensatz: die in Butter gewendeten Nudeln.
Ja, jedes Essen ist eine Sprache. Jedes Menü eine Erzählung. Die ganz grossen Köche können aromatische Motive im Rahmen eines Menüs entwickeln wie grosse Autoren. Die einzelnen Gerichte werden in eine Erzählung eingebettet, die sich über sieben, acht oder auch zwölf Gänge erstreckt. In diesem Sinn hatte ich einst bei Frédy Girardet in Crissier das beste «Buch gegessen». All die Aromen des Menüs fügten sich zu einem grossen Spannungsbogen. Es war die perfekte Novelle. Ein Stück Literatur, Biss für Biss, Satz für Satz.
DIE HOLLÄNDERINNEN (Carl Hanser)
Dorothee Elmiger
Carl HanserMein Favorit für die Buchpreise des Herbstes. Ein Buch, perfekt durchkomponiert, vielleicht fast zu perfekt. In raffinierten Schachtelerzählungen wird erzählt von einer Reise in die Geheimnisse eines Regenwaldes. Dies auf den Spuren eines Regisseurs, der an Milo Rau erinnert. Das Eindringen in fremde Leben und fremde Welten unter regen-rauschendem Blätterdach wird zunehmend beklemmend. Zwischen Krimi, Horror und philosophischer Novelle steuert es auf ein faszinierend offenes Ende zu.
Dorothee Elmiger, Carl Hanser
NANON (Carl Hanser)
George Sand
Carl HanserDieses Buch reihe ich im Gestell nicht unter S wie George Sand ein, sondern unter E. Wegen der einzigartigen Elisabeth Edl. Und so steht es zwischen Flauberts «Madame Bovary», Stendhals «Rot und Schwarz» und Modianos «Die Tänzerin», alle von Edl übersetzt. Ein herrliches historisches Stück über eine Frau, die auf dem Land die Französische Revolution erlebt und sich dank ihrer grossen Liebe emanzipiert – berührend, da sich jeder eine so sichere Liebe wünscht.
George Sand, Carl Hanser
DAS CAMEMBERT-DIAGRAMM (Rowohlt Berlin)
Nadia Pantel
Rowohlt BerlinPräsident Macron schwenkte 2022 zärtlich eine Baguette vor laufender Kamera, als sie Weltkulturerbe-Status erlangte. Als das dem deutschen Roggen-Vollkorn-Sauerteig-Brot 2014 passierte, gab es keine vergleich-baren Bilder mit der Kanzlerin. Nun, die Baguette ist der Inbegriff der zentralisierten Kultur: Seit der Französischen Revolution haben per Gesetz alle das Recht auf das gleiche «brüderliche Brot». Historie, Kultur und Politik der Grande Nation – genüsslich erklärt.
Nadia Pantel, Rowohlt Berlin
LáZáR (Rowohlt Berlin)
Nelio Biedermann
Rowohlt BerlinDer literarische Überflieger aus Zürich hat einen Page-Turner geschrieben, bei dem man die Seiten rasch umblättert, um das Buch in einem Zug zu verschlingen. Leider ging es dem Autor beim Schreiben wohl ähnlich: Die schönste Idee nämlich geht rasch vergessen. Der Sohn des ungarischen Grafen hat eine so durchsichtige Haut, dass man die inneren Organe sieht. Diese Idee hatte vor hundert Jahren schon Raymond Roussel, dessen Skizze «Bertha das Blumenkind» ich in der Pariser Nationalbibliothek entdeckte und übersetzte. So fand eine grandiose Idee einmal einen Autor, den niemand liest, und nun einen Autor, der die Idee gleich wieder vergass. Schade.
Nelio Biedermann, Rowohlt Berlin
DIE TÄNZERIN (Carl Hanser)
Patrick Modiano
Carl HanserDer Nobelpreisträger verdichtet in der Erzählung die Motive, für die er berühmt ist: Paris, Melancholie, Liebe, Sehnsucht, in klingende Sprache. Er erzählt von einer Frau, die aus der Provinz kommt und Tänzerin wird. Bald heftig umworben von Männern und einer Mäzenin, beginnt sich das Karussell der Liebe zu drehen wie die Plätze von Paris, die im Nebel in Modianos atmosphärischen Sätzen vor unserem inneren Auge vorbeigleiten und gleich in den nächsten TGV springen lassen. Ein Tanz im Takt der Liebe.
Patrick Modiano, Carl Hanser
Stefan Zweifel ist Journalist, Übersetzer und Literaturkenner. In seiner Buchkolumne in STYLE verrät er seine Lieblingslektüre.
Rita Palanikumar