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X-Mas-Story

Jessies Geburt – eine Weihnachtsgeschichte

Als Mary unverhofft schwanger wird, hat sie ein Problem. Denn ihr Freund Jo denkt, sie sei noch Jungfrau. Der spektakulären Geburt ihrer Tochter folgt pure Frauenpower.

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«Wo wir sind? Auf einer Wiese. Da steht eine Kuh. Und ein Esel. Ich schick dir den Standort.»

«Wo wir sind? Auf einer Wiese. Da steht eine Kuh. Und ein Esel. Ich schick dir den Standort.»

Kathrin Bänziger

Oh nein!», entfährt es Gott. Mary zuckt zusammen. Sie hat nicht erwartet, dass ihre Mutter Luftsprünge macht vor Freude, wenn sie von Marys Schwangerschaft erfährt. Aber das ist nun doch etwas heftig. «War nicht so gemeint, sorry», sagt Gott und nimmt ihre Tochter in den Arm. «Was sagt Jo dazu?» – «Der weiss es noch nicht.» – «Und wann willst dus ihm sagen?» Mary druckst herum. «Es gibt ein kleines Problem: Jo denkt, ich bin noch Jungfrau.» Gott glaubt, sich verhört zu haben. «Warum das denn um alles in der Welt?» – «Weil der Bodycount seiner Freundin null sein muss vor ihm. Alles andere kommt nicht infrage.» Gott seufzt. «Und warum hattet ihr noch keinen Sex?» – «Wir sind ja noch nicht so lange zusammen, und ich muss mindestens drei Monate warten, bis ich ihn ranlasse, sonst bin ich billig.» – «Sagt wer?» – «Sagt Tate auf Tiktok.»

Gott seufzt zweimal. Einmal vor Bestürzung, dass ihre Tochter sich auf so einen Loser eingelassen hat, einmal vor Erleichterung, dass dieser nicht der Vater ihres Enkelkindes ist. «Und wer ist dann der Vater?» – «Gabriel.» – «Unser früherer Nachbarsbub Gabriel? Der, von dem seine Mutter etwa viermal am Tag schwärmte, was für ein Engel er sei?» – «Ja, der. Wir haben uns zufällig getroffen und ich hab ihm mein Herz ausgeschüttet wegen Jo, und er hat mich getröstet …». «Ja, offensichtlich», sagt Gott und seufzt noch einmal. «Und was willst du jetzt machen?» Mary zuckt mit den Schultern. «Na ja, wenn ich so schnell wie möglich mit Jo ins Bett steige, kann ich ihm sagen, es sei halt gleich beim ersten Mal passiert. Er hält sowieso nicht viel von Verhütung.» – «Aber er kann doch rechnen … okay, könnte funktionieren. Aber im Ernst, Mary, willst du wirklich einen grossspurigen Autonarren, der sein Geld mit dem Verticken von Koks verdient, als Vater für dein Kind?» – «Woher willst du das wissen?» – «Ich bin Gott.» – «Was soll das heissen?» – «Ich bin deine Mutter, ich weiss alles.»

Sieben Monate später
«Scheisse, scheisse, scheisse!» Jo springt aus dem BMW in die matschige Wiese und läuft einmal stirnrunzelnd um den Wagen herum, der mitten auf der Kuhweide zum Stehen gekommen ist. Er war wohl doch ein bisschen zu schnell unterwegs und hat die Kontrolle verloren. Hoffentlich ist ihm nichts passiert, seinem Baby. Zärtlich streicht Jo übers Rücklicht und prüft, ob es noch ganz ist. «Jo?», stöhnt Mary auf dem Beifahrersitz. «Ich glaube, das Baby kommt. Ich spüre schon den Kopf zwischen den Beinen.» – «Und was soll ich jetzt machen?» Jo gerät in Panik. – «Ruf meine Mutter an.» Jo hämmert die Nummer in sein Handy. «Gott? Es ist so weit. Aber wir habens nicht ins Spital geschafft. Eine Sturzgeburt. Wo wir sind? Auf einer Wiese. Da steht eine Kuh. Und ein Esel. Ja, ein Esel. Was weiss ich, warum. Ich schick dir den Standort. Ah ja, Bethlehem. Nicht weit vom Inselspital? Gut. Du rufst einen Krankenwagen. Gut, wir warten.»

Zwei Tage später
Gott lächelt, als das Baby seine grossen, fast schwarzen Augen aufschlägt, und sie ansieht. Vorsichtig streicht sie dem kleinen Mädchen über den dunklen Haarschopf. Dann wandern ihre Augen zu ihrer Tochter, die sich im Spitalbett zurücklehnt. Die Erstversorgung im Krankenwagen für Mutter und Kind zwei Tage zuvor war tadellos, beide sind gesund. Jo ist nicht mit ins Inselspital gefahren, er wollte bei seinem BMW bleiben, bis der Abschleppdienst kommt. Als er abends vorbeischaut, um seine Tochter zu sehen, hat ers natürlich sofort gemerkt. Mary hat noch versucht, ihm zu erzählen, sie hätte asiatische Vorfahren, väterlicherseits, aber das hat er nicht geschluckt. Er hat nur noch was von «meine Ehre mit Füssen getreten», «Bitch» und «Wie soll ich das dem Clan erklären» gemurmelt und ist aus dem Zimmer gestürmt. «Weisst du», sagt Gott. «Das mag jetzt vielleicht ein blöder Zeitpunkt sein, um das zu sagen, aber ich bin froh, dass er weg ist.» – «Me too», sagt Mary.

Marys Handy surrt. «Cassie!», ruft sie freudig, als sie das Teil ans Ohr drückt. «Oh cool, ihr seid auf dem Weg? Ja, im ersten Stock. Es ist das Zimmer mit dem Stern an der Tür. Keine Ahnung, irgendwie ist die Nummer abgefallen, da haben sie einfach einen Stern drangemacht. Super, bis gleich.» Gott lacht. «Cassie, Mel und Baba? Das Trio Infernale aus Morgarten?» – «Nein», sagt Mary grinsend, «die drei Königinnen aus Morgarten.»

Zwei Stunden später
«Holy moly», entfährt es Cassie, als sie das Gesichtchen des kleinen Menschenbündels in ihrem Arm betrachtet. «Unverkennbar Gabriel. Wie hat ers aufgenommen?» Mary zuckt die Schultern. «Er weiss es erst seit gestern. Hab ihm ein Pic gewhatsappt.» – «Und?», fragt Mel. «Bisher hält sich seine Begeisterung in Grenzen.» – «Die seiner Freundin wohl auch», meint Baba. «Und die seiner Mutter. Ist ganz offensichtlich doch nicht so ein Engel, ihr Gabriel», fügt Gott trocken hinzu.

«Hören wir auf, über Typen zu jammern», sagt Cassie resolut. «Es gibt Wichtigeres: Geschenke!» Vorsichtig steht sie auf, legt das Baby in die Arme seiner Oma und beginnt, in ihrer Hermès-Tasche zu wühlen. Breit grinsend drückt sie Mary zwei Couverts und ein Päckchen in die Hand. Mary öffnet eins nach dem anderen und schaut ihre Freundinnen irritiert an. «Ein Bausparkonto und ein Portfolio mit ETFs fürs Baby?», fragt sie. «Und fünfzig Gramm Gold, für den Notfall. Du kriegst im Moment etwas über fünftausend Franken dafür», sprudelt es begeistert aus Baba heraus. «Für ihre Zukunft», sagt Cassie. «Damit sie nicht irgendwann auf einen Typen mit dicker Karre reinfällt, der Wert auf ihren Bodycount legt, obwohl sein eigener nicht über seine rechte Hand hinausgeht!» Gott prustet los. Mary grinst und drückt ihrer Tochter einen liebevollen Kuss auf die Stirn.

«Sag mal», fragt Mel schliesslich. «Hast du dich jetzt eigentlich für einen Namen entschieden?» Alle Augen sind erwartungsvoll auf Mary gerichtet. «Sie heisst Jessie.» – «Schön», sagt Cassie. «Hat das eine Bedeutung?» – «Es kommt aus dem Hebräischen und bedeutet ‹Gott sieht›.» – «Und zwar alles», sagt Gott und lächelt. Mary sieht ihre Mutter an. «Ich weiss nicht, ob sie die Geschichte ihrer Geburt je erfahren soll.» – «Machst du Witze?», meint Gott empört. «Ich hab den Buch-Vertrag sozusagen schon in der Tasche. Das wird ein Bestseller!»

Familienbloggerin Sandra C.
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Von Sandra Casalini vor 15 Stunden