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Der gehobene Schatz

Sie war die erste Streetstyle Fotografin

Die Schaufenster der Fifth Avenue dienten als ihr Selfie-Spiegel, die Menschen in den Strassen waren ihre Motive. Aber erst nach ihrem Tod erfuhr die Franko-Amerikanerin Vivian Maier die Ehre, die ihr zusteht.

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STYLE 01/24 Vivian Maier, Fotografin, IPFO Ausstellung

Selbstporträt in der Spiegelung eines Schaufensters. In New York schoss Vivian Maier Selfies «avant la lettre».

© Vivian Maier/Maloof Collection

Sie fotografierte Alltagsszenen wie niemand zuvor. Sie war eine Beobachterin des Unbeachteten, bezog Stellung für die Unterprivilegierten. Aber man wird nie wissen, was sie selber von ihrem Werk hielt und ob sie ihr Leben als gelungen betrachtete. Vivian Maier starb 2009 nach einem Sturz im Alter von 83 Jahren in Chicago. Die letzten Jahre hatte sie in einer kleinen Wohnung verbracht, bezahlt von einer Familie, der sie als Nanny gedient hatte. Ihr Heim war zugemüllt mit alten Zeitungen und nutzlosem Kram – es wurde klar, dass sie unter einer pathologischen Sammelwut gelitten hatte. Für die Nachbarschaft war sie einfach ein stets förmlich gekleidetes Quartier-Original. Niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, dass «die alte Dame auf der Bank» eine begnadete Fotografin war, die das Leben in den 1950er- und 1960er-Jahren so präzise dokumentiert hatte wie niemand zuvor.

Der Schatz

Es ist dem Zufall geschuldet, dass bei einer Versteigerung von Mietlagern der wohl grösste Bilderfund der Geschichte gemacht wurde. An die 100 000 Bilder, die meisten unentwickelt, hatte Viviane Maier hinterlassen – zusammen mit acht Tonnen Sammelgegenständen. Als der Schatz gehoben wird, ist sie bereits seit zwei Jahren tot. John Maloof und Jeff Goldstein werten die ersteigerten Filmrollen aus. Als die ersten Bilder ins Netz gestellt werden, bricht ein Begeisterungssturm los. Die Fotos der unbekannten Künstlerin treffen die Menschen im Herzen. Maloof zeichnet Maiers Vita im Film «Finding Vivian Maier» nach, der 2015 für einen Oscar nominiert wird.

STYLE 01/24 Vivian Maier, Fotografin, IPFO Ausstellung

Miami 1957: Als Nanny reiste Vivian Maier nach Florida und hielt mit ihrer Rolleiflex diese Szene fest.

©Estate of Vivian Maier, Courtesy of Maloof Collection and Howard Greenberg Gallery, NY

Nicht nur eine Nanny

«Die Nanny mit der Kamera» ist als Headline schnell gesetzt. Doch wie lebte Vivian Maier, was beschäftigte sie, wollte sie Fotografin werden und schaffte den Durchbruch nicht, war es «nur» ein Hobby, war sie glücklich gewesen? Auf diese Fragen versucht auch Autorin Ann Marks in ihrem Buch «Das Leben der Vivian Maier» Antworten zu geben. Ihre umfassende Recherche zeigt: Es ist nicht nur die Geschichte einer verkannten Fotografin, sondern auch die einer feministischen Emanzipation, die Tragik einer unehelichen Geburt, die Schwierigkeiten von Auswanderern im letzten Jahrhundert.

STYLE 01/24 Vivian Maier, Fotografin, IPFO Ausstellung

Zigarre im Mund, Einkäufe unterm Arm, ein Grinsen im Gesicht. Ein typischer Schnappschuss von Maier, die das pralle Leben auf Zelluloid bannte.

©Estate of Vivian Maier, Courtesy of Maloof Collection and Howard Greenberg Gallery, NY

Zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten

Vivian wird 1926 in New York geboren. Ihre Mutter ist die uneheliche Tochter einer Französin, die in die USA ausgewandert war. Das Geld ist knapp, der Alltag hart, Dokumente werden mit Absicht falsch ausgefüllt, damit die «Schande» der Familie nicht ans Tageslicht kommt. Einen Teil der Kindheit verbringt Vivian in Frankreich bei Verwandten, kehrt als Teenager in die USA zurück. Bekannt ist: Bereits damals fotografiert sie, eine Tante von ihr und ein Fotograf scheinen ihr Grundlagen des Handwerks vermittelt zu haben. Sie arbeitet in einer Puppenfabrik, lässt sich dann als Kindermädchen anstellen. Sie lebt in New York und Chicago, wechselt die Stellen häufig, erst bei der letzten Familie bleibt sie zwanzig Jahre.

STYLE 01/24 Vivian Maier, Fotografin, IPFO Ausstellung

Chicago 1975: In den 1970er-Jahren begann Maier mit der Farbfotografie. Hunderte unentwickelte Ektachrome-Filmrollen lagen in ihrem Nachlass.

©Estate of Vivian Maier, Courtesy of Maloof Collection and Howard Greenberg Gallery, NY

Die Frau im Schaufenster

Vivian fotografiert wie eine Besessene, sie wird als distanziert und «französisch» beschrieben. Mit ihrer Rolleiflex hält sie Strassenszenen fest – Kunstwerke und Zeitzeugnisse, geprägt von einer humanistischen Grundhaltung. Sie passt auch Prominente ab, macht unzählige Selbstporträts im Spiegel von Schaufenstern. Ende der 1950er-Jahre reist sie für ein halbes Jahr durch Asien, Afrika, Europa, hält alles auf Film fest. Eine kleine Erbschaft investiert sie in Fotomaterial, probiert auch Film- und Tonaufnahmen aus. «Ich trage mein Leben mit mir, und das steckt in Kisten», hat Vivian zu einer Arbeitgeberin gesagt. Wie wahr dieser Satz ist, entdeckte man nach ihrem Tod.

Sehenswert: «Vivian Maier – Anthology» im Haus der Fotografie in Olten bis 19. Mai.

Lesenswert: «Das Leben der Vivian Maier», Ann Marks, Verlag Steidl.

am 8. April 2024 - 07:30 Uhr