Sir William Lyons, geboren 1901 und berühmt geworden als Gründer der Marke Jaguar, verzichtete jeweils auf Wechselgeld. Es heisst, es habe ihn gestört, dass Münzen bei seinen massgeschneiderten Anzügen zu sehr aufgetragen hätten. Trotzdem ging er manchmal im Anzug zumindest auf ein Knie, dann nämlich, wenn er in der Auffahrt zu seinem Herrenhaus Wappenbury Hall die neuen Modelle – immer schwarz lackiert – begutachtete, welche die Jaguar-Designer entworfen hatten. Sein herrschaftliches Anwesen erschien ihm als die richtige Umgebung, die Formen der Prototypen bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen und vor allem in einer zur potenziellen Kundschaft passenden Umgebung zu studieren. Und allenfalls zu verbessern.
Es sei hier nicht die Phrase bemüht, dass sich der 1985 verstorbene Sir William Lyons wahrscheinlich im Grabe umgedreht hätte, wenn er den neuen Type 00 noch hätte erleben müssen. Denn er selbst liebte die Veränderung, den Auf- und Umbruch. Insbesondere seine Sportwagen waren immer ein harter Bruch mit der Vergangenheit. Der XK120 von 1948 war formal ein kompletter Bruch mit seinem Vorgänger, dem S.S. 100. Und der Nachfolger der XK-Modelle, der legendäre E-Type, war 1961 wiederum ein ebensolcher Bruch mit seinen Vorgängern – und der XJ-S, der 1975 präsentiert wurde, war es ebenfalls (wenn auch in die falsche Richtung). Vielleicht hätte Sir Lyons sogar gelächelt; die Bezeichnung Type 00 (00 wird in manchen Sprachen als Abkürzung für die Toilette gebraucht) hätte sicher seinem britischen Humor entsprochen. Er liebte zudem aussergewöhnliche Farben (der Type 00 wurde bisher in einem sanften Blau und einem umso heftigeren Pink gezeigt) – und eben, Reset, alles von vorne, so dachte er auch als Unternehmer.
Die aktuellen Probleme von Jaguar sind nicht neu. 1968 musste Lyons eine Kooperation mit der British Motor Corporation eingehen, aus der ironisch British Elend (englisch: British Leyland) entstand. 1972 trat Lyons als Geschäftsführer zurück, beeinflusste das Unternehmen aber weiterhin bis kurz vor seinem Tod 1985. Ende 1989 kaufte Ford das Unternehmen, es folgte keine gute Zeit. 2008 ging Jaguar an die indische Tata Motors – und es wurde auch nicht besser. 2023 verkündete die Marke, nach Jahren von teilweise heftigen Verlusten (auch der eigenen Identität), kleiner und ab 2025 rein elektrisch zu werden, dazu künftig preislich eher gegen Bentley antreten zu wollen. Im Sommer 2024 wurde die Produktion mehr oder weniger komplett eingestellt, was aber kaum jemand merkte, weil kaum noch jemand einen Jaguar kaufen wollte. Am 19. November 2024 zeigte Jaguar sein neues Logo und eine bunte Werbekampagne, am 2. Dezember wurde auf der Art Basel Miami Beach das Concept Car Type 00 enthüllt. Im Mai 2025 wurde die verantwortliche Marketing-Agentur gefeuert, vor Kurzem ging auch der für die «Wiedergeburt» von Jaguar verantwortliche CEO Adrian Mardell in Pension.
Es sind zwei paar Schuhe. In der Werbung gilt: «Any news is good news.» Noch gar nie erhielt eine Werbekampagne eines Autoherstellers weltweit so viel Aufmerksamkeit wie «Copy Nothing» im November 2024 – Jaguar, an der Verkaufsfront komplett von der Bildfläche verschwunden, war plötzlich wieder in aller Munde. Das verstärkte sich noch, als die Briten den Prototyp zeigten – der Aufschrei war noch viel grösser. Aber eben, nicht nur die Fachwelt sprach vom neuen Jaguar, auch die Mode, die Wirtschaftsweisen, die Werber, die Sowiesoimmerallesbesserwisser wie Elon Musk. Mission Impossible – aber komplett erfüllt. Dass gefühlt 105 Prozent der Kommentare negativ ausfielen, steht auf einem anderen Blatt. Und da sei der damalige und jetzt ehemalige CEO Adrian Mardell zitiert: «Wir gehen davon aus, dass sich nur noch etwa 15 Prozent unserer bisherigen Kunden für einen Jaguar der neuen Generation entscheiden werden.» 15 Prozent von fast null ist wie viel?
Der Type 00, der so wie gezeigt nicht in Serie gehen wird, hat ein paar Problemzonen, designtechnisch. Nicht, dass er aussieht wie ein Geldtransporter für Moskauer Oligarchen oder sich aufführt wie ein XXL-Vibrator mit einem Extrapack Batterien oder ihm der «Leaper» fehlt, das Markenemblem von Jaguar – als reiner Stromer braucht er einfach keine zwei Meter lange Motorhaube, unter der nichts sein kann ausser lauwarme Luft. «Form follows function», das gilt halt auch dann, wenn man laut nach Aufmerksamkeit schreit. Jaguar war während Jahrzehnten berühmt für «beautiful, fast cars». Davon ist jetzt etwas verloren gegangen – und genau das ist der Überlegungsfehler. Es reicht nicht, wenn sich sieben englische Fussballer mit Tattoos sowie schrillen Frisuren und dann noch drei isländische Underground-Rapperinnen diesen neuen, mit Sicherheit sehr teuren Jaguar als Statement für oder gegen was auch immer bestellen wollen. Das ist kein Geschäftsmodell, das kann nicht gut gehen. Richtig ist allerdings, dass Jaguar ausschliesslich auf Strom setzt: Diese Ruhe, diese überlegene Gelassenheit beim Fahren, diese Kraft, das passt bestens zur britischen Luxus-Marke.
William Lyons ging mit 17 von der Schule ab, ohne Abschluss. Als er seine erste Firma gründen wollte, war er noch zu jung, musste warten bis zu seinem 21. Geburtstag. Zum «Sir» wurde er von der Queen 1956 geschlagen, nachdem seine Automobile viermal die 24 Stunden von Le Mans gewonnen hatten. Aber auch für seine Verdienste um den Export, denn «win on Sunday, sell on Monday» funktionierte gerade in den USA sehr gut. Das Leben ist komplizierter geworden seither, nicht nur in der Autoindustrie, doch wahrscheinlich ist es genau das, was Jaguar (und nicht nur Jaguar) heute fehlt: ein vernünftiger Visionär, der auch liefert. Ein glaubwürdiger Charakter, der vorne hinsteht. Die Hunde, die Sir William Lyons in den letzten Jahren seines Lebens begleiteten, hiessen übrigens Sally, Peppie und Buttons. Auf Schalter und Knöpfe (Buttons) verzichtet der Type 00 im Innenraum komplett.

Nein, das ist kein Raumschiff Enterprise – so stellt sich Jaguar das neue Interieur vor.
ZVG