Mit dem Purespeed lancieren Mercedes und AMG die «Mythos»-Serie – und zitieren dabei die eigene Historie. Das Modell ist ein Tribut an alte und neue Ikonen. Die Höcker hinter Fahrer und Beifahrer sind inspiriert vom Mercedes 300 SLR, der 1955 das legendäre Rennen Mille Miglia gewann. Der Bügel über dem Cockpit erinnert an den Halo der aktuellen Mercedes-F1-Fahrzeuge. Der mächtige Kühlergrill mit dem AMG-Schriftzug ist dem AMG One entlehnt.
Und dann ist da noch die Lackierung. Bloss zwei Farben stehen zur Wahl: Silber – wie die legendären Silberpfeile – und Rot. Dieses ist angelehnt an den Siegerwagen des Targa-Florio-Rennens in Sizilien im Jahr 1924. Damals war die rote Lackierung traditionell italienischen Rennwagen vorbehalten. Weil Mercedes aber nicht wollte, dass die patriotischen italienischen Fans den eigentlich weissen Mercedes gleich als deutschen Rennwagen erkennen und ihn mit Steinwürfen am Sieg hindern, tarnte man das Auto in auffälligem Rot.
Der AMG Purespeed ist ebenfalls ein (für die Strasse zugelassener) Rennwagen. Die meisten der 250 gebauten Exemplare dürften allerdings in Garagen reicher Sammler verschwinden und kaum je Auslauf erhalten. Allerdings ist das Auto für eine kurze sonntägliche Ausfahrt auch zu unpraktisch. Allein schon durch die fehlende Frontscheibe. Dadurch wird der 585 PS starke Supersportwagen zum ultimativen Antidot gegen zu schnelles Fahren. Denn schon ab 60 km/h wird der Wind im Gesicht unangenehm – und ab 120 km/h zerren die Kräfte äusserst brutal an den Nackenmuskeln. AMG liefert zwar mit jedem Fahrzeug zwei in Wagenfarbe lackierte Helme mit – aber mit der Eleganz nach dem Aussteigen ist es nicht weit her, wenn der Helm die Frisur ruiniert hat …
Dennoch ist es faszinierend, die Naturelemente beim Fahren hautnah zu spüren – ohne bevormundende Sicherheitssysteme, ohne Spurassistent, ohne piepsende Tempowarnung. Letztere würde sowieso übertönt vom brüllenden Vierliter-V8-Benziner unter der schier endlos langen Motorhaube. Trotz des vorgetäuschten anachronistischen Purismus steckt unter dem Blechkleid des mindestens 920 000 Euro teuren Zweisitzers modernste Technik, die er sich mit seinen zivileren, deutlich günstigeren Brüdern AMG SL und AMG GT teilt. Doch wieso braucht man einen Purespeed? Die Antwort: Man braucht ihn nicht. Aber man will ihn. Wir waren nur einen Tag mit dem Auto unterwegs, haben aber bald aufgehört zu zählen, wie oft sich Leute nach uns umdrehten und begeistert den nach oben gereckten Daumen zeigten – oder uns um ein Foto baten. Und mit «uns» ist natürlich ausschliesslich das Auto gemeint.
Aber es geht um mehr als nur um Aufmerksamkeit. In kaum einem neuen Auto kommt man dem befreienden Gefühl des Töfffahrens so nahe wie im AMG Purespeed – ohne, dass man sich um Schräglage und Schutzkleidung Gedanken machen und auf die Sicherheit schützender Knautschzonen verzichten muss. Der Purespeed steht für die Symbiose aus Purismus und Moderne. So ist er in gewisser Weise das perfekte Modell für den Auftakt der «Mythos»-Reihe. Denn um diese selbst macht Mercedes weiterhin ein Geheimnis und lässt kaum durchblicken, was man damit bezwecken will. Vielleicht interpretiert Mercedes das Wort Mythos und die geplante Serie im literarischen Sinn, wonach eine traditionelle Geschichte beschrieben werden soll, die typischerweise ein natürliches oder soziales Phänomen erklärt?
Der Innenraum des äusserlich puristisch anmutenden AMG Purespeed ist nobel und in weissem Leder ausgeführt – etwas anderes gibt es nicht.
Mercedes-Benz AG