Ich bin botox- und fillerfrei und benutze nicht mal irgendwelche speziellen Crèmes oder Seren für ältere Frauen. Warum ich das tat? Irgendwie hatte ich an dem Tag einfach das Gefühl, mal ein kleines bisschen Realität zeigen zu wollen, an einem Ort, an dem das sonst kaum jemand tut.
Wir haben immer das Gefühl, es seien vor allem junge Menschen, die unter dem Druck leiden, einem gewissen Schönheitsideal entsprechen zu müssen. Das stimmt ganz und gar nicht. Auch uns älteren Semestern wird regelmässig um die Ohren gehauen, wie man in der Mitte des Lebens idealerweise auszusehen hat. Zwar brüsten sich Medien und Unternehmen gerade gern damit, auch ältere Frauen sichtbar zu machen. Aber eine glattgebügelte 56-jährige Jennifer Aniston auf einem Magazincover oder eine 52-jährige Heidi Klum ohne ein Gramm Fett in einer Unterwäschewerbung tun uns mittelalten Frauen nicht wirklich einen Gefallen. Und die paar Male, wo ich auf Instagram und Co. Falten, Fett, Tränensäcke und Augenringe sehe, kann ich an einer Hand abzählen. Also hab ich das zu meinem Geburtstag selbst übernommen und einfach mal das getan, was sonst wenige tun: Ich habe Imperfektion sichtbar gemacht.
Schön ist: Die allermeisten haben mir einfach zum Geburtstag gratuliert, was mich sehr gefreut hat, und wofür ich mich herzlich bedanke. Viele versicherten mir auch, ich sähe toll aus für mein Alter. Ein etwas zweifelhaftes Kompliment, aber ich lasse esgern gelten. Auch wenn der Zweck dieses Posts wirklich nicht «fishing for compliments» war.
«Wer es wagt, sich sichtbar zu machen – insbesondere dann, wenn er oder sie nicht einem Ideal entspricht – bekommt Hate.»
Natürlich liessen auch Bemerkungen wie ich könnte mal wieder etwas Schlaf vertragen oder ein Lächeln würde auch nicht schaden nicht lange auf sich warten (irgendwie scheint nie der falsche Zeitpunkt zu sein, einer Frau zu sagen, sie solle doch mal lächeln ...). Ja, ich weiss, dass man damit rechnen muss, wenn man so etwas online postet. Genauso wie ich damit rechnen muss, dass Herr oder Frau Weltert aus Uster beim Betrachten des Fotos, das jeweils zu dieser Kolumne erscheint, das dringende Bedürfnis verspürt, mich wissen zu lassen, ich sähe aus «wie ein 100 Tönner». Fakt ist: Wer es wagt, sich sichtbar zu machen – insbesondere dann, wenn er oder sie in irgend einer Weise nicht dem gesellschaftlichen Ideal entspricht –, bekommt Hate. Fakt ist aber auch: Nur, weil das allen passiert, und es Tausende tun, heisst das nicht, dass es okay ist!
Ich glaube, dass wir Frauen mittleren Alters im Unterschied zu jungen Frauen wissen, dass das Jennifer-Aniston-Heidi-Klum-Ideal nur mit sehr viel zeitlichem, körperlichem und finanziellem Aufwand erreicht werden kann. Es ist total okay, diesen zu betreiben, wenn er es einem Wert ist. Ich für mich habe beschlossen, das nicht zu tun. Fänden mich meine Kinder cooler ohne Augenringe? Kaum. Würde mich mein Partner mehr lieben ohne Bauchfett? Hoffentlich nicht. Es war nicht immer so, aber jetzt, mit 50, kann ich mit meinen Imperfektionen leben. Und zwar so gut, dass ich es auch wage, sie sichtbar zu machen. Was auch immer das auslösen mag.
