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Der ganz normale Wahnsinn

Brief an meinen Sohn - den perfekten Mann

Es ging in die zweite Runde: Nachdem die Männer sich im SRF-«Club» wegen des Themas Männlichkeit in die Haare gerieten, diskutierte nun eine Frauenrunde darüber, was Frauen wollen, wie Männer sollen. Es ging wesentlich gesitteter zu als bei den Herren der Schöpfung. Aber es ist auch wesentlich einfacher, über andere zu diskutieren (und zu urteilen) als über sich selbst. Die Erkenntnisse unserer Familienbloggerin zum Thema, fasst sie in einem Brief an ihren Sohn zusammen.

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ZVG

Mein lieber Kleiner (sorryyyyy – aber das wirst du immer bleiben!),

Du wurdest in eine seltsame Zeit hineingeboren. Aber schlussendlich wurden wir das doch irgendwie alle. Die Zeit steht nicht still. Alles ist im Fluss, alles ändert sich. Das ist einfach so. Es ist aber auch so, dass Veränderungen uns allen immer schon Angst gemacht haben. Und nach den rein körperlichen Bedürfnissen ist Sicherheit wohl das, wonach sich Menschen am allermeisten sehnen. Und je grösser die Verunsicherung ist, desto mehr sehnt man sich nach jemandem, der einem an der Hand nimmt und führt und im Extremfall alle Entscheidungen für einen trifft. Das ist menschlich. Wäre es das nicht, hätte kein totalitäres System dieser Welt je eine Chance gehabt. Auch das Patriarchat nicht.

Fakt ist: Männer haben jahrhundertelang die Entscheidungen getroffen in unserer Gesellschaft. Fakt ist aber auch: Frauen haben das nicht nur zugelassen, sondern unterstützt. Wie schnell sich das geändert hat, siehst du in deinem eigenen Umfeld: dein Grosi durfte noch nicht mal abstimmen. Für deinen Neni wäre es unmöglich gewesen, nicht Vollzeit zu arbeiten und mehr Zeit mit uns Kindern zu verbringen. Für dich ist es völlig normal, dass es Tage gibt, an denen dein Papi da ist und das Mami nicht.

Frauen sind nicht mehr bereit, alle Verantwortung abzugeben

Aber Köpfe ändern sich halt mitunter nicht so schnell wie äussere Gegebenheiten, wenn sie sich andere Umstände gewöhnt sind. Dann entsteht Angst in diesen Köpfen. Und Sehnsucht nach Sicherheit. Nach dem, was man kennt. Was einem das gute Gefühl der eigenen Kindheit zurückbringt. Dann geht der, der während seiner Teeniezeit Punk hörte, Batik-Shirts trug und dachte, die ganze Welt steht ihm offen, als Vierzigjähriger an Jodelfeste und will nichts lieber als einen Schreibtischjob. Und die, die als junge Frau gerade zum Trotz Mathe studierte, um es allen zu zeigen, bleibt mit Freuden mit Kind und Kegel am heimischen Herd und züchtet Geranien auf dem Balkon. Das ist nichts Schlechtes. Aber es wird die Entwicklung nicht aufhalten.

Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem die Frauen nicht mehr bereit sind, alle Verantwortung – und alle Macht – den Männern zu überlassen. Und an dem die Männer das auch gar nicht mehr wollen. Das Problem ist: meine Generation ist anders aufgewachsen als deine. Und jeder und jede sucht einen Platz in dieser neuen «Ordnung». Dass die Frauen den Männern einen Schritt voraus sind, ist nachvollziehbar, schliesslich mussten wir in den letzten Jahren um unsere Rechte kämpfen.

Du bist der perfekte Mann!

Aber: Ich glaube, es ist Zeit, dass wir mal kurz warten auf die Männer. Und realisieren, dass das, was der Feminismus propagiert – nämlich gleiche Rechte für alle – zwar für uns Frauen nach wie vor nicht gilt, aber eben für die Männer auch nicht. Beim Feminismus – zumindest bei dem, den ich vertrete – geht es nicht um «Gleichmacherei». Es geht nicht darum, dass Frauen und Männer gleich sind. Sondern darum, dass alle gleich viel wert sind. Ich verstehe nicht, warum meine Arbeit nicht gleich viel wert sein sollte wie die meines männlichen Kollegen. Ich verstehe aber auch nicht, warum die Präsenz deines Vaters bei dir nicht gleich viel wert sein sollte wie meine.

Meine Generation wird das vermutlich nicht mehr «richten». Meine Generation wird keine Lohngleichheit hinkriegen und keinen vernünftigen Vaterschaftsurlaub. Aber deine schon. Weil du ganz andere Vorbilder hast, als wir sie hatten. Du siehst Frauen, die arbeiten, und Männer, die kochen. Besser als ich (aber hey – der Vergleich ist unfair. Dein Götti kocht besser als ALLE!). Du hast einen Vater, der dir noch nie gesagt hat, dass «Männer nicht weinen», sondern dich in den Arm nimmt, wenn du traurig bist. Du hast eine Schwester, die Fussball spielt, und hast dich selbst entschieden, dass du Hiphop tanzen möchtest. Du weinst, wenn du traurig oder wütend bist, ohne dir zu überlegen, ob das männlich ist oder nicht. Du rufst nach Mami oder Papi, wenn du nicht schlafen kannst. Du bist traurig, wenn du Streit hast, und wütend, wenn du etwas nicht kannst. Du bist das grösste Grossmaul und der feinfühligste Mensch, den ich kenne. Du schaust Superhelden-Filme und reisst dabei grosse Sprüche, und wenn dazwischen die Greenpeace-Werbung mit den dünnen Eisbären kommt, weinst du. Du bist manchmal unendlich ignorant, und immer unendlich grosszügig und unendlich hilfsbereit. Genau so sollst du sein. Als Bub, als Mann. Du bist perfekt. Und was immer passiert, wie immer sich die Welt entwickelt - lass dir niemals von jemandem einreden, dass du es nicht bist!

am 7. Februar 2019 - 09:48 Uhr, aktualisiert 7. Februar 2019 - 13:33 Uhr