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Der ganz normale Wahnsinn

Offener Brief an Yaël Meier

Yaël Meier ist erfolgreiche Unternehmerin, 22 Jahre jung und zum zweiten Mal schwanger. Und kriegt alles easy unter einen Hut, Kinder, Karriere, Party. Toll, findet unsere Familienbloggerin. Und erklärt, warum ihr Yaëls Statement trotzdem etwas schräg reinkommt.

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Yaël Meier

Jungunternehmerin Yaël Meier wird bald zum zweiten Mal Mama.

Annie Wehrli/Dominik Lindenegger

«Ich bin 22 und wieder schwanger. Das verändert alles. Und nichts. Denn seit ich vor zwei Jahren zum ersten Mal Mutter wurde, weiss ich: Alles bleibt möglich. Denn ich konnte trotzdem mein Unternehmen von 3 auf 30 Mitarbeitende aufbauen. Trotzdem reisen, feiern und geniessen. Trotzdem meine Karriere vorantreiben. Trotzdem eine tolle Mutter sein. Denn auch wenn die Wirtschaft und Gesellschaft Frauen vor eine andere Realität zu stellen versuchen: Es ist 2023 und wir können alles schaffen, was wir wollen!» Das schreibt Yaël Meier auf der Business-Plattform LinkedIn.

Kein Zweifel, dass du eine gute Mutter bist

Liebe Yaël,

zuerst mal ganz herzlichen Glückwunsch zur Schwangerschaft. Das ist grossartig, und ich zweifle keine Sekunde daran, dass du eine gute Mutter bist und eine gute zweifache Mutter sein wirst. Denn das hat nichts mit deiner Karriere und schon gar nichts mit deinem Alter zu tun. (Meine Mutter war auch 22, als ich zur Welt kam, und sie war immer eine grossartige Mutter.)

Was mir trotzdem ein bisschen schräg reinkommt an deinem LinkedIn-Post ist die Aussage «Wir können alles schaffen, wenn wir wollen.» Denn sie suggeriert, dass wir nicht richtig wollen, wenn wir nicht alles schaffen. Dass wir versagen, wenn wir es nicht schaffen, zwei tolle Kinder zu erziehen, eine steile Karriere hinzulegen, und dabei noch ein grossartiges Liebes- und Sozialleben zu führen, mit ganz viel Reisen und Party.

«Ich habe nicht alles geschafft. Ich habe mit viel Gewurstel und Georganisiere und mit sehr viel Hilfe von deren Vater meine Kinder grossbekommen. Wenigstens das.»

Da sitze ich also, und betrachte voller Bewunderung dieses Mädchen, das meine Tochter sein könnte (und das meine ich überhaupt nicht ironisch!), und muss mir eingestehen, dass ich versagt habe.

Ich habe nicht alles geschafft. Ich habe mit viel Gewurstel und Georganisiere und mit sehr viel Hilfe von deren Vater meine Kinder grossbekommen. Wenigstens das. Eine steile Karriere habe ich dabei leider nicht hingelegt, obwohl ich immer viel gearbeitet habe. Zu viel, hab ich immer wieder gehört. Man hat doch als Frau keine Kinder, wenn man dann doch so viel arbeitet.

Jedenfalls fehlten in meiner Karriereleiter plötzlich ziemlich viele Sprossen, als ich Mutter wurde. Ich schliesse nicht mal aus, dass ich da gar nicht wirklich rauf wollte zu dieser Zeit. Aber wenn man mirs ein kleines bisschen leichter gemacht hätte, hätte ich vielleicht gewollt.

Die grösste Versagerin der Welt

Party? Reisen? Nur beruflich. Oder mit den Kindern. Alles andere hätte mein Gewissen nicht ertragen, wo ich doch eh schon so oft für den Job unterwegs war. Die Beziehung zum Vater meiner Kinder hab ich in dem Gewurstel aus Kindern und Job und schlechtem Gewissen in den Sand gesetzt. Die Beziehung zu mir selbst ebenfalls. Und ich bin lange regelmässig am Versuch gescheitert, mich nicht täglich wie die grösste Versagerin der Welt zu fühlen. Aber so langsam hab ichs wieder im Griff.

Klar, die Voraussetzungen waren anders, als ich vor mehr als 18 Jahren Mutter wurde. Es gab noch nicht mal einen staatlichen Mutterschaftsurlaub. Aber auch heute sind die allermeisten Mütter, egal wie alt sie sind, nicht in einer so privilegierten Lage wie du, Yaël.

«Selbst wenn wir alle 2023 alles schaffen könnten, was wir wollen – was ich stark bezweifle – müssen wir nicht immer alles schaffen, was wir könnten. Es ist auch 2023 total okay, nicht alles zu schaffen.»

Die meisten Mütter haben keine eigene Firma mit ihrem Partner und können sich Zeit und Ressourcen gemeinsam so einteilen, wie es für sie stimmt. Die meisten Mütter müssen karrieremässig immer noch zurückstecken, weil man Frauen mit kleinen Kindern immer noch keine Führungspositionen zutraut. Die meisten Mütter können nicht auf einen Partner zählen, der ihnen den Rücken freihält, denn die meisten Väter arbeiten immer noch zu hundert Prozent in einem Angestellten-Verhältnis. Die meisten Mütter verdienen immer noch nicht gleich viel wie Väter in der gleichen Position. Die meisten Mütter müssen sich zweimal überlegen, ob sie feiern gehen, nicht, weil sie nicht wollen, sollen weil der Babysitter kostet. Die meisten Mütter können nicht eben mal ein Wochenende irgendwohin jetten, nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie weder die Zeit noch das Geld haben.

Das soll in keiner Art und Weise eine Kritik an dir und deinem Leben sein, liebe Yaël. Im Gegenteil. Ich finde grossartig, was du leistest, und wenn meine 18jährige Tochter in dir ein Vorbild sieht, kann ich das nur begrüssen. Aber selbst wenn wir alle 2023 alles schaffen könnten, was wir wollen – was ich stark bezweifle – müssen wir nicht immer alles schaffen, was wir könnten. Es ist auch 2023 total okay, nicht alles zu schaffen. Und das, liebe Frauen jeden Alters, sagt euch eine 47-jährige Mutter, die nicht alles geschafft hat, was sie wollte. Und mittlerweile ganz gut damit klarkommt.

Von SC am 21. Januar 2023 - 18:02 Uhr