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Der ganz normale Wahnsinn

Woher kommt diese Gewalt unter Kindern?

In Deutschland erstechen ein 12- und ein 13-jähriges Mädchen eine Klassenkameradin. In der gleichen Woche quält eine Mädchengang gleichen Alters stundenlang eine Mitschülerin. Einzelfälle, klar. Aber Studien und Umfragen zeigen: die Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen nimmt zu, auch in der Schweiz. Was tun?, fragt unsere Familienbloggerin. Eines sicher nicht: wegschauen.

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Young girl throws a punch Copyright: xPeterxPannewitzx/xDesignxPicsx , 32035774 PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: PeterxPannewitzx/xDesignxPics 32035774

Bei Kindern und Jugendlichen fliegen immer öfter die Fäuste – oder noch Schlimmeres.

IMAGO/Design Pics

Meine Tochter, derzeit mit pinken Haaren unterwegs, geht kürzlich an einer Gruppe Jugendlicher vorbei. «Punk», schreien sie ihr entgegen. Als sie nicht reagiert, beginnen sie, Steine nach ihr zu werfen. Zum Glück zielen sie schlecht. Meine Tochter traut sich seither nicht mehr, diesen Weg zu gehen.

Ein Freund meines Sohnes gerät vor einiger Zeit in eine Keilerei. Der andere zieht ein Messer und sticht zu, verletzt ihn an der Hand. Diese muss in der Folge mehrmals operiert werden. Mein Sohn, der den Streit mit angesehen hat, sagt bei der Polizei aus. Tags darauf fliegt ein grosser, schwerer Stein durch unser Badezimmerfenster. Auf Bitte meines Kindes hin verzichte ich darauf, Anzeige zu erstatten. Ich habe so schon Angst, wenn er allein unterwegs ist. Das würde es nur noch schlimmer machen.

Das Internet fördert die Bereitschaft, gemein zu sein

Diese zwei Beispiele aus meinem Alltag sind schlimm genug, aber noch relativ harmlos (ich bin extrem froh, hat sich mein Sohn aus der Messerstecherei rausgehalten), ich höre von anderen Eltern viel Schlimmeres. Und wenn ich von Kindern lese, die andere stundenlang quälen oder gar umbringen, verschlägt es mir die Sprache.

Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen gabs doch früher auch schon. Hat sie tatsächlich zugenommen – oder ist sie nur sichtbarer geworden?, frage ich mich. Diverse Studien und Umfragen legen ersteres nahe. Eine deutsche Umfrage unter Lehrpersonen ergibt zum Beispiel, dass fast die Hälfte von diesen sagt, Jugendliche seien generell gewaltbereiter geworden. 66 Prozent sagen, die Umgangssprache sei rauer geworden, und 75 Prozent sind der Meinung, die Anonymität im Internet fördere die Bereitschaft, gemein zu sein.

«Gewalt ist ein Kreislauf. Täter sind immer auch Opfer (was sie nicht entschuldigt). Aggressionen entstehen nicht aus dem Blauen heraus, sondern sind immer Reaktionen.»

Die Frage nach den Gründen lässt sich nicht so einfach beantworten. Klar, die Medien – allen voran die Sozialen – und die Games dürften eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen. Wer mehr oder weniger täglich Gewalt konsumiert, für den oder die verliert sie irgendwann ihren Schrecken. Trotzdem: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder ganz gut unterscheiden können zwischen Fiktion und Realität. Oder, um es mit den Worten meines Sohnes auszudrücken: «Nur weil ichs geil finde, wenn einer in einem Actionfilm aus einem Helikopter springt, heisst das ja nicht, dass ich das unbedingt auch mal machen will. Ich bin ja nicht blöd. Genauso ists mit Baller-Games.»

Für total unschuldig halte ich all dies nicht – gerade auch, was die Verrohung der Sprache angeht. Aber da ist noch mehr dahinter. Gewalt ist ein Kreislauf. Täter sind immer auch Opfer (was sie nicht entschuldigt). Aggressionen entstehen nicht aus dem Blauen heraus, sondern sind immer Reaktionen, wie der Neurologe Joachim Bauer in seinem Buch «Schmerzgrenze» schreibt. Wer Gewalt anwendet, dessen oder deren Schmerzgrenze wurde in der einen oder anderen Art oder Weise verletzt, physisch oder psychisch. Und meistens nicht vom selben Menschen, gegen den sich die Aggression richtet.

Noch immer kein Gesetz 

Die Chance, dass diese Verletzungen der Schmerzgrenze zu Hause stattfinden, ist hoch. Denn laut einem Bericht der Stiftung Kinderschutz Schweiz erfahren immer noch gut die Hälfte aller Schweizer Kinder zu Hause körperliche oder seelische Gewalt. Man geht davon aus, dass gut 130’000 Kinder in den eigenen vier Wänden geschlagen werden. Wen wunderts also, dass so viele Kinder und Jugendliche unter diesen Umständen selbst zu Täterinnen und Tätern werden.

Und immer noch gibt es kein Gesetz, das es Eltern und Erziehungsberechtigten in unserem Land explizit verbietet, ihre Kinder zu schlagen. Seit 1978 ist das Züchtigungsrecht zwar abgeschafft, die Pflicht, darauf zu verzichten, gibt es aber nicht. Zu viel Einmischung des Staates in die Familie, finden die Gegnerinnen und Gegner. Unverständlich. Durch ein entsprechendes Gesetz könnte man nicht nur die Zahl von Opfern häuslicher Gewalt reduzieren, sondern auch die Zahl derer, die vom Opfer von diesen zu Tätern gewordenen Opfern wurden – und deren Opfer und deren Opfer und deren Opfer und so weiter … Ein Gedanke wärs wert, liebe Schweizer Justiz, oder?

Von SC am 3. April 2023 - 07:51 Uhr