1. Home
  2. Body & Health
  3. Health
  4. Kann man als Hypochonder entspannt leben?
Ein Facharzt für Psychiaterie klärt auf

Kann man als Hypochonder überhaupt entspannt leben?

Menschen, die bei jedem Kopfweh an Gehirnturmor denken und sich bei jedem Zwicken sicher sind, dass sie unter einer tödlichen Krankheit leiden, nennt man im Fachjargon Hypochonder. Was tun, wenn man selber betroffen ist und ob man Ängste überhaupt in den Griff bekommen kann, weiss Dr. med. Joe Hättenschwiler.

Artikel teilen

Hypochondrie kann Betroffenen das Leben ganz schön schwer machen.

Hypochondrie kann Betroffenen das Leben ganz schön schwer machen.

Getty Images

Leichte Kopfschmerzen, ein Ziehen im Brustkorb, Schwindel: Für die meisten Menschen sind das erstmal harmlose Symptome, die schnell wieder vergehen. Andere hingegen gersten in solchen Momenten in eine Spirale aus Sorge, Internetrecherche und der festen Überzeugung, ernsthaft erkrankt zu sein.

Hypochondrie, heute als «Krankheitsstörung» bezeichnet, ist ein Phänomen, das durch die ständige Angst vor einer schweren Krankheit geprägt ist.

Wie erkennt man, wann aus normaler Sorge eine behandlungsbedürftige Störung wird? Und wie geht die Psychiatrie mit einem Leiden um, das sich oft der Logik entzieht? Dr. med. Joe Hättenschwiler,  Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Chefarzt und Medizinischer Leiter des Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich, kurz ZADZ, gibt Auskunft.

Joe, Hättenschwiler, was genau versteht man unter Hypochondrie?

Hypochondrie, heute meist als Krankheitsangststörung bezeichnet, ist eine psychische Störung, bei der Betroffene eine ausgeprägte und anhaltende Angst haben, schwer krank zu sein oder zu werden – obwohl es keine oder nur minimale medizinische Befunde gibt. Die Betroffenen richten ihre Aufmerksamkeit stark auf ihren eigenen Körper und deuten selbst harmlose körperliche Empfindungen wie z.B. ein Ziehen, Kribbeln oder Kopfschmerzen als Anzeichen für eine schwere Erkrankung. Diese Sorgen bestehen trotz wiederholter ärztlicher Untersuchungen und beruhigender Befunde fort. Entsprechende ärztliche Rückversicherungen führen in der Regel nur zu einer kurzfristigen Beruhigung, bevor die Angst erneut auftritt oder sich auf eine andere Krankheit verlagert.

Wie verhalten sich Menschen mit Hypochondrie?

Typisch ist, dass Betroffene entweder sehr häufig ärztliche Hilfe aufsuchen oder Arztbesuche vollständig vermeiden – aus Angst, eine schlimme Diagnose zu erhalten. Die ständige gedankliche Beschäftigung mit der vermeintlichen Krankheit verursacht erheblichen psychischen Stress und kann das soziale und berufliche Leben stark beeinträchtigen. 

Können schon Kinder darunter leiden?

Sie Können betroffen sein, obwohl deutlich seltener als Erwachsene. In der Kindheit spricht man in der Regel von gesundheitsbezogenen Ängsten. Typische Merkmale umfassen häufiges Klagen über körperliche Beschwerden ohne medizinisch feststellbare Ursache oder eine übermässige Sorge um Krankheiten, insbesondere nach dem Kontakt mit erkrankten Personen oder auch nach Medienberichten über schwere Erkrankungen. Die ständige Nachfrage nach Rückversicherung («Bin ich krank?») bei Eltern oder Ärztinnen und Ärzten, sollte Eltern aufmerksam machen. Eine frühzeitige psychologische Unterstützung ist hier sinnvoll, insbesondere wenn die Symptome anhalten oder das Alltagsleben beeinträchtigt wird.

Sind mehr Frauen oder Männer betroffen?

Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Während einige Studien eine gleichmässige Verteilung zwischen den Geschlechtern feststellen, deuten andere darauf hin, dass Frauen tendenziell häufiger betroffen sind. Das könnte unter anderem daran liegen, dass Frauen öfter über gesundheitliche Ängste sprechen und eher medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Zudem weisen sie generell höhere Raten bei Angststörungen und Depressionen auf, was auch auf hypochondrische Tendenzen zutreffen könnte. Letztlich spielt auch die soziale Prägung eine Rolle, da Frauen in vielen Fällen eine grössere Sensibilität für Gesundheitsfragen entwickeln.

Kann man Hypochondrie therapieren?

Hypochondrie lässt sich mit kognitiver Verhaltenstherapie meist wirkungsvoll behandeln oder in schweren Fällen zumindest deutlich lindern. Betroffene lernen dabei, ihre Gedankenmuster zu erkennen, hinterfragen und körperliche Symptome realistischer einzuordnen. Ziel ist es, die ständige Sorge über mögliche Krankheiten zu durchbrechen. Ergänzend helfen oft Entspannungsverfahren oder Achtsamkeitstraining. In schweren Fällen kann auch eine medikamentöse Unterstützung sinnvoll sein. Wichtig ist vor allem, dass die Beschwerden ernst genommen und frühzeitig therapeutisch begleitet werden.

Ist Hypochondrie vererbbar?

Nicht direkt. Allerdings können genetische und familiäre Faktoren das Risiko erhöhen. Kinder, die in einem überfürsorglichen oder krankheitsfokussierten Elternhaus aufwachsen, übernehmen häufig Verhaltensmuster wie übermässige Selbstbeobachtung des Körpers oder Krankheitsängste. 

Wie kann man überhaupt angenehm leben, wenn jeder noch so kleine Schmerz zu grossen Ängsten führt?

Für Menschen mit Krankheitsangststörung ist die ständige Furcht vor schweren Krankheiten tatsächlich sehr belastend. Das führt zu permanentem innerem Stress und kann die Lebensqualität stark einschränken. Ziel der therapeutischen Begleitung ist es daher, die automatisierten Angstreaktionen zu unterbrechen. In der kognitiven Verhaltenstherapie lernen Betroffene, körperliche Signale realistischer zu bewerten und mit Unsicherheiten umzugehen, ohne in den Strudel der Angstspirale zu geraten. So wird schrittweise wieder ein Leben möglich, in dem nicht jeder Schmerz bedrohlich wirkt. Wenn die psychische Belastung gezielt therapeutisch angegangen wird, kann trotz Hypochondrie durchaus ein Leben mit weniger krankheitsbezogenem Stress sein.

Können Betroffene ihre Ängste auf ihre Kinder übertragen? 

Eltern mit hypochondrischen Ängsten können diese auch unbewusst auf ihre Kinder übertragen. Das geschieht vor allem durch sogenanntes Modelllernen: Kinder übernehmen das, was sie bei ihren Eltern beobachten – zum Beispiel, dass schon leichte Beschwerden als bedrohlich angesehen oder ständig ärztliche Rückversicherungen gesucht werden. Auch überfürsorgliches Verhalten kann dazu führen, dass Kinder selbst ein übersteigertes Gesundheitsbewusstsein entwickeln. Um dem vorzubeugen, ist es wichtig, dass betroffene Eltern ihre eigenen Ängste reflektieren und sich gegebenenfalls therapeutische Unterstützung holen. Ein ruhiger, sachlicher Umgang mit Symptomen und eine realistische Vermittlung von Gesundheitsthemen im Alltag helfen, Kindern ein unaufgeregtes Verhältnis zu ihrem Körper zu ermöglichen.

Was, wenn die Hypochondrie so gross ist, dass sich Betroffene gar nicht mehr trauen, zum Beispiel ins Ausland in die Ferien zu reisen?

Bei stark ausgeprägter Hypochondrie kann die Angst vor einer plötzlichen schweren Erkrankung so dominieren, dass selbst Urlaubsreisen als unzumutbares Risiko empfunden werden. Betroffene vermeiden dann das Ausland, weil sie befürchten, dort im Notfall keine ausreichende medizinische Versorgung zu erhalten oder sich sprachlich nicht verständigen zu können. Solche Ängste führen oft zu Rückzug, sozialer Isolation und einem erheblichen Verlust an Lebensqualität. Dabei können auch Spannungen in Beziehungen auftreten, wenn z.B. nicht mehr gemeinsame Reisen gemacht werden können. In der Therapie geht es darum, diese Ängste schrittweise abzubauen – etwa durch gedankliche Konfrontation mit der befürchteten Situation, strukturierte Planung von Reisen oder auch erste kleine Ausflüge mit therapeutischer Begleitung. Das Ziel ist nicht, Risiken auszublenden, sondern einen realistischen Umgang damit zu entwickeln.

Haben Sie Tipps für Betroffene?

Erstens: Körpersignale bewusst wahrnehmen, aber nicht automatisch als Krankheit deuten. Zweitens: Auf ständiges Googeln von Symptomen verzichten – das verstärkt die Ängste meist nur. Drittens: Ein Gedankentagebuch hilft dabei, Sorgen zu erkennen und einzuordnen. Viertens: Realitätschecks einbauen, etwa durch die Frage: ‚Wie würde ich diese Symptome bei jemand anderem bewerten?‘ Und fünftens: Nicht zögern, psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe anzunehmen. Denn insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie hat sich bei Hypochondrie als sehr wirkungsvoll erwiesen.

Wirkt sich Hypochondrie auch auf eine Beziehung aus?

Ja, Hypochondrie kann eine Partnerschaft belasten. Ständige Sorgen um die eigene Gesundheit, häufige Arztbesuche oder die wiederkehrende Suche nach Beruhigung durch den Partner können zu emotionaler Erschöpfung führen. Manche Partner fühlen sich überfordert, hilflos oder zunehmend in die Rolle eines ‚Co-Therapeuten‘ gedrängt. Das kann zu Spannungen, Rückzug oder Missverständnissen führen. Umso wichtiger ist es, offen über die Ängste zu sprechen, klare Grenzen zu setzen und gegebenenfalls gemeinsam therapeutische Unterstützung zu suchen. Eine stabile Beziehung kann dann auch eine wertvolle Ressource für den Umgang mit der Erkrankung sein – wenn beide Seiten entlastet werden und das Thema nicht das gesamte Miteinander bestimmt.

Was können Menschen tun, deren Partner unter Hypochondrie leiden?

Für Angehörige ist diese Situation eine enorme Herausforderung. Einerseits möchte man beruhigen und unterstützen, andererseits kann die ständige Auseinandersetzung mit Krankheitsängsten emotional belasten. Wichtig ist, emphatisch zu bleiben – aber nicht jede Sorge durch ständige Rückversicherung zu verstärken. Angehörige sollten ermutigen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, statt selbst die Rolle eines medizinischen Ratgebers zu übernehmen. Offene Kommunikation auf Augenhöhe ist zentral: Es hilft, gemeinsam zu klären, wie man mit Angstmomenten umgeht, wo Unterstützung sinnvoll ist und wo auch eigene Grenzen gewahrt bleiben müssen. In manchen Fällen kann auch eine gemeinsame Beratung oder Paartherapie entlastend wirken.

Oft wird Hypochondrie gesellschaftlich belächelt, warum?

Hypochondrie lässt sich nicht durch objektiv messbare Befunde erklären. Während körperliche Erkrankungen sichtbare Symptome oder eindeutige Diagnosen liefern, beruhen hypochondrische Beschwerden vor allem auf innerer Angst – was oft fälschlicherweise als ‚Einbildung‘ abgetan wird. Hinzu kommt, dass Betroffene häufig medizinische Hilfe suchen, obwohl ihnen wiederholt bestätigt wurde, dass sie körperlich gesund sind. Das führt bei Aussenstehenden leicht zu Unverständnis oder genervter Reaktion. Dabei handelt es sich um eine ernstzunehmende psychische Störung, die grossen Leidensdruck verursacht. Mehr Aufklärung ist nötig, um dieses Krankheitsbild zu entstigmatisieren und Betroffenen mit der gleichen Empathie zu begegnen wie bei jeder anderen Erkrankung auch.

Kann man die Hypochondrie ganz aus dem Leben verbannen oder geht es mehr darum, einen Weg zu finden, um mit ihr zu co-existieren?

Ob Hypochondrie nahezu vollständig geheilt werden kann oder eher dauerhaft begleitet wird, hängt vom Einzelfall ab. Bei vielen Betroffenen lässt sich durch eine gezielte Therapie eine deutliche Besserung erreichen. Die Symptome können so stark zurückgehen, dass sie den Alltag kaum noch beeinträchtigen. In manchen Fällen bleibt jedoch eine gewisse Grundsensibilität für Körpersymptome bestehen oder es gibt einen wechselnden Verlauf, indem Ängste in Stressphasen wieder verstärkt auftreten. Dann geht es weniger um ‚Heilung‘ im klassischen Sinne, sondern vielmehr darum, einen gesunden Umgang mit der eigenen Angst zu entwickeln – also eine Art Co-Existenz. Ziel ist es, wieder Vertrauen in den Körper zu gewinnen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, in dem die Krankheitsangst nicht mehr dominiert.

 

Maja Zivadinovic
Maja ZivadinovicMehr erfahren
Von Maja Zivadinovic vor 7 Minuten