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  4. Eltern sein ist schwer genug: ««Mütter sollten ehrlicher miteinander sein»

Experte fordert Solidarität und Verständnis

Fehlerlose Eltern gibt es nicht – und das ist okay!

«Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein hingegen sehr» lautet ein Sprichwort. Und doch finden es viele Mütter und Väter schwierig, ehrlich über die Herausforderungen des Alltags mit Kindern zu sprechen. Psychotherapeut Egon Garstick erklärt, warum das so ist und zeigt auf, wie wir dieses Tabu endlich brechen können.

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mutter vater baby

Das erste Kind verändert das Leben seiner Eltern enorm. Viele trauen sich noch immer nicht, offen auszusprechen, dass sie nicht nur glücklich sind mit Baby.

Imago

Wenn zwei Menschen ein Baby bekommen, wird erwartet, dass sie glücklich sind. Ist das die Realität?
Zuerst muss man sich wohl fragen, wer von beiden wirklich das Kind gewollt hat. Vielleicht hat der Mann doch noch Bedenken gehabt, diese aber für sich behalten, weil er seine Frau nicht enttäuschen will, oder er hat sie verdrängt. Und die Frau kann am Anfang ihrer Schwangerschaft unter Übelkeit und depressiven Verstimmungen leiden. Bereits diese vorgeburtliche Phase kann die Freude auf das Baby beeinträchtigen. Wenn dann das Baby geboren ist, kann ein sehr anstrengender oder sogar dramatischer Geburtsverlauf der Mutter wie auch dem Vater noch in den Knochen sitzen. Nun ist das Kind da, und die starke Abhängigkeit des Babys kann irritierende Fantasien auslösen, wie zum Beispiel der Gedanke, dass das Kind einem aus den Armen fallen könnte. Ein sogenanntes Schreibaby kann einen nervlich sehr heraus- und auch überfordern. Da können auch aggressive Gefühle gegenüber dem «Schreihals» entstehen und die wiederum lösen dann Schuldgefühle aus, welche Mutter und Vater noch mehr stressen. 

Das sind bereits reichlich viele Gründe warum Elternfreuden getrübt sein können. Wieso sind all diese widersprüchlichen Gefühle so ein Tabu?
Und das war ja noch keine abschliessende Aufzählung aus der Realität: Wenn zum Beispiel ein Elternteil erst am Abend wieder mit einem Erwachsenen sprechen kann, kann dieses Allein-Sein mit einem Baby zu viel werden. Daher brauchen Mütter mit Babys guten Kontakt mit Bezugspersonen. Tatsache ist, dass beide Elternteile, wenn sie sich einlassen auf ihre neue Rolle, eine einschneidende Veränderung in ihrem Leben erleben. Es muss für längere Zeit auf einiges an Aktivitäten und Hobbys verzichtet werden, die vorher einem Elternteil für seine Selbstverwirklichung sehr wichtig waren. Etwa Männer, die vor dem Elternwerden für ihr Ego jedes Jahr einen Marathon rennen oder einen Viertausender besteigen mussten, können in Probleme geraten, wenn sie sich plötzlich einschränken müssen. Ausserdem fällt es einigen Vätern schwer, damit umzugehen, wenn ein kleines Baby am Anfang stark auf die Mutter fixiert ist.

Umso mehr. Warum redet kaum jemand darüber?
Viele Menschen in unserer Gesellschaft werden von einem übertriebenen Drang zu immer mehr Selbstverwirklichung gestresst und viele suchen auch auf ungesunde Art nach immer mehr narzisstischer Befriedigung. In diesem Kontext existiert aber auch noch dieses Ideal einer fehlerlosen Elternliebe. Es gibt dieses Idealbild der perfekten Eltern, auch vermittelt durch die Werbung, die immer Zeit für das Kind haben, denen nichts zu viel wird, die sich um die Kleinen kümmern und jederzeit ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen. Da gibt es dann also grosse widersprüchliche Gefühle zu ertragen. Darüber zu reden, fällt vielen Eltern von Babys schwer, weil sie nicht den Eindruck erwecken wollen, dass sie nun undankbar seien. Ein nicht selten zu hörender Vorwurf in ihrem Umfeld ist: Wer sich erlaubt, «sich in der heutigen Zeit Kinder anzuschaffen», der müsse sich nicht darüber beklagen, dass das anstrengend ist.    

Erleben Sie dieses Unverständnis des Umfeldes oft?
Zentral ist: Es braucht Solidarität in der Beziehung. Aber eben auch Verständnis drumherum. Etwa von den Grosseltern, die sich selber oftmals an die anstrengende Zeit erinnern können. Oft helfen die dann unkompliziert mit. Es muss nicht immer das Gespräch mit den jungen Eltern sein, sondern ich meine ganz konkrete Hilfe. Die Freunde sind zentral. Der Vater kann sich dafür einsetzen, dass der soziale Austausch nicht einbricht. Er sorgt aber auch dafür, dass Mutter und Kind weder eine Reizüberflutung noch Einsamkeit empfinden. 

egon garstick
ZVG

Egon Garstick ist Psychotherapeut. Er arbeitet für den Verein «Arche für Familien», ist Dozent am psychoanalytischen Seminar Zürich und Autor des Buches «Junge Väter in seelischen Krisen». 

Was macht es mit Eltern, wenn sie dieses Verständnis in ihrem Umfeld nicht haben?
Darunter können viele Mütter leiden und dann besteht die Gefahr, dass sie sich nicht mehr mitteilen. Enttäuschungen und Selbstwertzweifel runterschlucken ist ein gefährliches Eintritts-Billett in eine depressive Krise. Mütter und Väter schätzen den ehrlichen Austausch über ihr Erleben. Es ist enorm wichtig, dass man die Erfahrung machen kann, dass ambivalente Gefühle in Ordnung sind. Und humorvoller Austausch im Kreise anderer Eltern ist auch wichtig, denn er entlastet das von Zweifeln geplagte Gewissen.

Sollte man werdende Eltern besser vorbereiten? 
In Geburtsvorbereitungskursen sollte tatsächlich viel mehr über Themen wie Erschöpfung und irritierende Elterngefühle gesprochen werden. Auch darüber, dass Unterstützung von aussen berechtigt und sinnvoll ist. Ganz nach dem populären Spruch «Ein Kind braucht ein Dorf, nicht nur die Familie.» Ich würde mir auch eine Art Lebenskunde-Unterricht an den Schulen wünschen. Man könnte schon Jugendliche in Sozialkunde und Allgemeinbildung darüber informieren, was es braucht, damit ein Kind gut und gesund gross werden kann und was sich verändert im Leben, wenn man Eltern wird. Solch eine Aufklärung könnte sogar den Jugendlichen helfen, auch ihre eigenen Veränderungen in ihrer adoleszenten Entwicklung besser zu begreifen. Nach der Geburt sollten Eltern rasch Zugang zu Gesprächsrunden für den Austausch haben. Alle drei Ebenen sind gut, etwa die Frauen untereinander, Väter unter sich oder auch als Paar mit anderen Eltern.

Ab wann brauchen Mütter oder Väter psychotherapeutische Hilfe?
Wenn ein Elternteil sehr introvertiert und sehr erschöpft ist, keine Freude mehr erleben kann und immer mehr von starken Zweifeln an ihren elterlichen Kompetenzen geplagt wird, sollte zum Beispiel der andere Partner alarmiert sein und dazu motivieren, zusammen professionelle Hilfe bei einer Mütter- und Väterberatung aufzusuchen. Dort gibt es meiner Erfahrung nach kompetente Kräfte, die auch vermitteln, wenn psychotherapeutische Unterstützung nötig ist. Wenn weder Vater noch Mutter die Alarmsignale bemerken, dann sind das verwandtschaftliche Umfeld und gute Freunde gefragt. Dann braucht es mutige Leute, die das Problem ansprechen.

Von Edita Dizdar am 10. Oktober 2021 - 08:30 Uhr