Kuscheln, knuddeln, stillen, spazieren, die Familienzeit geniessen und viel Besuch empfangen: Die ersten Monate mit einem neugeborenen Baby sind für viele Frauen die glücklichste Zeit ihres Lebens, mit Tagen voller Wonne und Geborgenheit.
Ein Grossteil von ihnen startet allerdings mit einem Gefühlseinbruch in diese glückliche Zeit: dem Babyblues. Die Betroffenen fühlen sich nicht gut, weinen oft – und haben ein schlechtes Gewissen, weil sie doch glücklich sein müssten. «Dabei handelt es sich beim Babyblues um ein ganz normales physiologisches Geschehen», sagt Dr. med. Jacqueline Binswanger, Leiterin Kompetenzzentrum Gynäkopsychiatrie der beiden Psychiatrieverbunde Psychiatrie St. Gallen Nord und Psychiatrie-Dienste Süd sowie Gründerin des Projekts Mutterglück.
Während der Schwangerschaft ist der Östrogenspiegel hundertfach erhöht. Mit dem Abstossen der Plazenta fällt der Wert in den Keller – und damit bei vielen auch die Stimmung. «Der Körper und die Psyche der Frau müssen nach der Geburt wieder auf das Normniveau kommen.» – Und das geschieht eben nicht bei allen problemlos, wie die Expertin erklärt: «Hormone machen manche Frauen krank und andere gesund.»
Reden hilft, das weiss auch Model Chrissy Teigen, 33, die nach der Geburt ihres ersten Kindes, Tochter Luna, 3, an einer Postpartalen Depression litt. In der Today Show sprach die Ehefrau des Musikers John Legend, 40, kürzlich über ihre Krankheit und wie sie sich davon erholt hat. Nun engagiert sie sich für Frauen, die dasselbe durchleben. Mit der Plattform www.mywishformoms.org möchte sie dazu beitragen, dass Betroffene entstigmatisiert werden und sie ermuntern, offen über ihre Krankheit zu reden. Bei ihrem zweiten Kind, Sohn Miles, 1, war Chrissy Teigen vorbereitet und konnte besser damit umgehen, wie sie in der Talkshow erzählte, und so werde es auch bei weiteren Babys sein. «Wenn man die Depression überstanden hat, ist es einfach nur wunderbar!»
Vielen Betroffenen fällt es schwer, sich diese Gefühle einzugestehen. Sie verniedlichen ihre Situation, reden sich ein: «Ich bin halt einfach noch im Babyblues». Ebenso das Umfeld: «Du hast halt noch die Heultage».
«Wer im Wochenbett nicht glücklich ist, wird hoch stigmatisiert», sagt Jacqueline Binswanger. «Die Schuld- und Schamthematik ist schon beim Babyblues stark. Entsprechend hoch ist die Schwelle, sich einzugestehen, dass man Hilfe braucht und sich behandeln zu lassen.» Die Ärztin hat deshalb das Projekt Mutterglück mitgegründet, um betroffenen Frauen möglichst niederschwellig Hilfe anbieten zu können. «Denn es ist wichtig, möglichst schnell psychologische Hilfe zu holen. Sonst kann sich der Zustand schnell verschlechtern.»
50 bis 80 Prozent der Frauen sind nach einer Geburt von den «Heultagen», wie der Blues auch genannt wird, betroffen. Der Gefühlssturz beginnt meistens nach dem Milcheinschuss etwa drei Tage nach der Geburt. Eben noch gesunde, vorfreudige Frauen sind plötzlich weinerlich und labil – und überrascht von den starken negativen Gefühlen: Sie denken, sie sollten doch glücklich sein, und spüren diese Erwartungshaltung auch von ihrem Umfeld. Der Blues dauert bei vielen Frauen einen bis zwei Tage, manchmal auch etwas länger. «Halten die Symptone auch nach zwei Wochen noch an, ist es allerhöchste Zeit für professionelle Hilfe», sagt Jacqueline Binswanger.
Dann handelt es sich nämlich nicht einfach um einen Babyblues. Sondern um eine Krankheit namens postnatale oder postpartale Depression. Zehn bis dreizehn Prozent der Gebärenden sind davon betroffen. Sie fühlen sich nach der Geburt erschöpft und antriebslos, können dem Kind gegenüber zwiespältige, gar ablehnende Gefühle haben, sie leiden an quälenden Zwangsgedanken, an Ängsten, dem Kind etwas anzutun, oder haben sogar Suizidgedanken.
Speziell gefährdet für eine postpartale Depression seien oft besonders feinfühlige, sensible Frauen mit hohen Ansprüchen an sich. «Wir haben zum Beispiel viele Lehrerinnen bei uns in der Sprechstunde», sagt Jacqueline Binswanger, «das sind meistens Frauen, die gerne Stuktur haben und alles gut planen wollen – ein Baby bringt dies durcheinander.» Oder Akademikerinnen, die sich stark über ihren Beruf identifizieren. Oder Frauen, die seelische Wunden aus der Kindheit mit Bewältigungsstrategien wie Sport oder anderen Hobbys verarbeiten – und mit Baby schlicht nicht mehr dazu kommen.
Auch die Oberärztin selber fühlte sich zuerst einmal überfordert, als sie ihr erstes Kind bekommen hatte: «Ich hatte gedacht, ich wüsste Bescheid, was Babys angeht – stellte dann aber fest, dass ausserhalb des Operationssaals, in dem ich früher gearbeitet hatte, ganz andere Kompetenzen gefragt sind», erzählt Jacqueline Binswanger.
Die meisten postpartalen Depressionen beginnen entweder direkt nach der Geburt. «Diese Fälle überschneiden sich mit dem Babyblues und haben meistens biologische Gründe: Zur hormonellen Umstellung kommen Schlafmangel und die grosse Beanspruchung hinzu, oder in der Familie der Frau gibt es bereits Fälle von Depressionen», erklärt Jacqueline Bindswanger. Sechs bis sieben Wochen nach der Geburt steigt die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung nochmals an. «Zu diesem Zeitpunkt sind dann meistens psychologische Gründe verantwortlich.»
Vorbeugen kann man einem Stimmungstief nach der Geburt nicht, wie die Expertin erzählt. «Gerade der Babyblues ist so normal, mit ihm muss jede Gebärende rechnen», sagt Jacqueline Binswanger. Wichtig sei dann, dass die Frau eine gute Pflege bekommt und diese auch zulässt. «Nehmen Sie Trost an und lassen Sie Ihre Gefühle zu.»
- Möglichst viel schlafen. Wenn die Nächte mit dem Neugeborenen noch unruhig sind, tagsüber bei jeder Gelegenheit ein Nickerchen machen.
- Jeden Tag nach draussen an die frische Luft gehen.
- Die Selbstfürsorge wichtig nehmen: Auch die eigenen Bedürfnisse im Blick behalten!
- Genug essen! Vor lauter Pflege und Sorge ums Kind kommt man manchmal fast nicht dazu. In vielen anderen Kulturen werden Frauen im Wochenbett von anderen mit Essen umsorgt.
«Zudem sollte man sich bewusst sein, dass die Geburt eines – gerade des ersten – Kindes ein grosses und lebenseinschneidendes Erlebnis ist, das viele Selbstverständlichkeiten in Frage stellt», sagt Jacqueline Binswanger. «Dies muss man anerkennen.» Die heutige Ansicht, man müsse fünf Wochen nach einer Geburt wieder schlank und rank und fit sein, sei nicht sehr realistisch.
«Beim Babyblues ist Gelassenheit gefragt und das Vertrauen darauf, dass sich mit der Zeit alles normalisieren wird», sagt die Expertin. Dies gelte genau so für die Postpartale Depression, von der etwas mehr als jede zehnte Gebärende betroffen ist. «Jede Schwangere muss sich bewusst sein, dass die Depression eine der Möglichkeiten ist, wie sie das Wochen- oder Spätwochenbett erleben kann.»
Sie macht möglichen Betroffenen aber Hoffnung: «Die meisten Patientinnen haben eine gute Prognose.» In selteneren Fällen kann sich aber eine schwere Depression entwickeln. Deshalb ist es wichtig, sich den Bezugspersonen, aber vor allem auch der Wochenbett-Hebamme, die jeder Gebärenden zusteht, und der Gynäkologin oder dem Gynäkologen anzuvertrauen. Sie können die Betroffenen an die spezialisierten Psychologen und Psychiater weiterverweisen. Sich möglichst früh professionelle Hilfe holen ist wichtig für eine baldige Heilung.
Damit auch Neo-Mamas mit Startschwierigkeiten die Zeit mit ihrem Baby als eine der glücklichsten Phasen in ihrem Leben geniessen können.
Infos zum Projekt Mutterglück: www.forum-psychische-gesundheit.ch/mutterglueck/