Zu einer gesunden Kindheit gehört es, ordentlich gegen die Eltern zu rebellieren. In der Autonomiephase – die auch «Terrible Twos» genannt wird – entdecken Kinder erstmals, dass sie eine eigene Meinung haben und können vor lauter Überforderung damit schon mal ein paar heftige Trotzanfälle hinlegen. Das ist normal, das geht vorbei. Auch in der Vorpubertät und spätestens in der Jugend sind überbordende Abnabelungs- und Abgrenzungsausbrüche zu erwarten und kein Grund zur Sorge.
Aber manche Kinder entwickeln sich zu echten Tyrannen. Sie gehen mit einer fordernden und rücksichtslosen Haltung durchs Leben, die vor niemandem Halt macht – nicht einmal vor den eigenen Eltern. Spätestens wenn Kinder ihre eigenen Eltern bedrohen, sie schlagen oder nur noch mit echten Dummheiten um die Ecke kommen, wenn sie nur noch rummotzen und nichts mehr sie glücklich machen kann, dann handelt es sich wohl um einen Fall von Tyrannenkind.
So erkennt ihr ein Tyrannenkind
Diese Kinder sind nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht und zeigen kaum Empathie für ihre Mitmenschen. Sie zeigen weder Geduld noch Rücksicht und schaffen es kaum, ihre eigenen Bedürfnisse auch mal hinten anzustellen.
Wir nehmen das Wort ungern in den Mund, aber im Elternjargon werden Tyrannen auch «Arschlochkinder» genannt. Fast so, als wären sie selber schuld daran, dass sie sich unausstehlich oder beängstigend benehmen. Dabei können diese Kinder selbst nichts dafür, dass sie so geworden sind. Tyrannisierendes Verhalten hat seinen Ursprung im Elternhaus.
So entwickeln Kinder Empathie
Unsere Fähigkeit zur Empathie und Selbstregulierung hängt mit der Entwicklung des präfrontalen Cortex zusammen. Diese Hirnregion ist dafür zuständig, unser gesellschaftliches Verhalten zu regulieren. Zum Zeitpunkt der Geburt ist sie noch völlig unreif, deswegen ist es auch kaum möglich, Kindern in den ersten zwei Lebensjahren Selbstregulierung antrainieren zu wollen.
Im Gegenteil: Zu viel Tadel oder Strafe können in der frühen Kindheit sogar die Reifung dieser Hirnregion behindern.
«Wenn Kinder tyrannisches Verhalten zeigen, dann reagieren sie im Endeffekt auf etwas, das sie erleben»
Ines Berger, Erziehungscoach
Im Umkehrschluss fördern positive soziale Erfahrungen in der frühen Kindheit die Reifung des präfrontalen Cortex. Was jedoch nicht bedeutet, dass Eltern ihren Kleinkindern alles durchgehen lassen sollten. Gefragt ist eine liebevolle Konsequenz (den Grund dafür, erfahrt ihr weiter unten).
Während die Entwicklung des präfrontalen Cortex natürlich auch genetisch beeinflusst wird, lässt sie sich durch unsere Erziehung massgeblich beeinflussen. «Ein Kind kommt völlig hilflos zur Welt und könnte ohne Erwachsene nicht überleben. Nun lernt es sozusagen am Modell, wie Beziehungen gelebt werden, welche Werte wichtig sind, wie die Eltern mit ihren Gefühlen umgehen. Daher glauben Kinder, dass das, was in ihren Familien passiert, normal ist. Wenn sie also ein tyrannisches Verhalten zeigen, dann reagieren sie im Endeffekt auf etwas, das sie dort erleben», sagt Erziehungsexpertin Ines Berger auf familiii.at.
Diese Erziehungsfehler machen Kinder zu Tyrannen
Eltern, die kleine Tyrannen grossziehen, haben möglicherweise einen der folgenden sechs Erziehungsfehler gemacht.
1. Wenn Eltern ihre Emotionen verbergen und nicht offen darüber sprechen. Ein Kind lernt von seinen Eltern, wie Trauer aussieht und wie sie sich anfühlt, wie man sie benennt und wie man damit umgeht. Genauso verhält es sich mit Wut, Angst, Stress, Überraschung ... Machen Eltern aus eigenen Gefühlen ein Geheimnis, nehmen sie ihrem Kind die Möglichkeit, dies zu lernen. Ist man über sein Kind verärgert, darf man das zeigen. Ist man traurig, darf man das zugeben. Man darf vor einem Kind weinen, solange man dem Kind altersgerecht und rücksichtsvoll erklärt, wie es dazu kommt und wie man damit umgehen kann. Es zahlt sich auch, wenn Eltern sich authentisch verhalten und emotionale Offenheit an den Tag legen – aber abbekommen sollten die Kinder die Folgen solcher Gefühle natürlich nicht.
2. Einem Kind keinen Kontakt zu Gleichaltrigen ermöglichen: Kinder lernen soziales Verhalten ganz spielerisch, wenn man sie mit ihrer Peer Group (also eine Gruppe Gleichaltriger) zusammenbringt. Das hat Kinderarzt und Autor Remo Largo stets betont. «So lernt es zu sprechen, sich in andere Kinder einzufühlen, sich anzupassen, mit Konflikten umzugehen, Beziehungen zu pflegen und Freundschaften zu schliessen.» Der Kontakt zu anderen Kindern und weiteren Bezugspersonen sei nicht nur für die Entwicklung eines Kindes, sondern auch für dessen Wohlbefinden essenziell. Obwohl das Zusammensein mit Gleichaltrigen eben nicht immer nur watteweich verläuft: Während Eltern manchmal daran scheitern, konsequent zu sein oder klare Grenzen zu setzen, geben Kinder einander sofort ehrliches und unmissverständliches Feedback auf das Verhalten in der Gruppe. So lernen Kinder, die Grenzen ihrer Mitmenschen zu respektieren und sich selbst auch mal zurückzunehmen.
3. Klare Grenzen kommunizieren: Wie bereits im zweiten Punkt erwähnt, müssen Kinder lernen, dass sie nicht der Nabel der Welt sind und auch andere Menschen Bedürfnisse haben und Respekt verdienen. Es ist also in Ordnung, wenn Eltern für ihre eigenen Bedürfnisse einstehen und klare Grenzen kommunizieren.
4. Die Grenzen des Kindes missachten: Wie man in den Wald ruft, so schallt es zurück. Was wir von unserem Kind erwarten, müssen wir bereit sein, zu geben. Vorleben ist die beste und eventuell einzig wirklich wirksame Form der Erziehung.
5. Enttäuschungen aus dem Weg räumen: Das eigene Kind traurig zu sehen, ist natürlich eine grosse Herausforderung. Aber: Wir tun unserem Kind keinen Gefallen, wenn wir ihm jegliche Hürde und Enttäuschung aus dem Weg räumen. Eltern, die sich so verhalten, nennt man Rasenmäher-Eltern. Und längst ist bekannt, dass sie mit diesem scheinbar fürsorglichen Verhalten mehr Schaden anrichten als Gutes. Denn auch dieser Elterntyp nimmt seinen Kindern die Möglichkeit, einen Umgang mit schwierigen Gefühlen zu erlernen. In der Folge kann ein Kind von Rasenmäher-Eltern auch keine Residenz entwicklen (Resilienz ist die Fähigkeit, nach einem Misserfolg wieder weiterzugehen. Sozusagen das Immunsystem der Seele, das uns mental gesund hält).
6. Liebe durch Geschenke zeigen – statt durch Zuwendung: Manchmal haben Eltern ein schlechtes Gewissen, weil sie das Gefühl haben, zu wenig da zu sein oder etwas falsch zu machen. Was in solchen Momenten hilft, ist ein Gespräch mit dem Kind. Man darf Fehler einräumen und Gefühle offenbaren. Was man nicht tun sollte, ist, das Kind zur Beruhigung des eigenen Gewissens mit Geschenken zu überhäufen. Auch sollte man ein Kind nach schlechten Erlebnissen nicht mit Süssigkeiten oder Shoppen oder Geschenken trösten. Auch hier geht es wieder darum, ob unser Kind mit unserer liebevollen Begleitung lernen darf, mit Bedürfnissen, Enttäuschungen oder Herausforderungen umgehen zu lernen – oder ob wir ihm diese Möglichkeit verwehren.