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Homeschooling-Mutter erzählt

«Zwei bis drei Lernstunden pro Tag reichen»

Während der Coronakrise konnten schulpflichtige Kinder und ihre Eltern Homeschooling-Luft schnuppern. Und manch eine Familie kam dabei ins Träumen... Wie wäre es, die Kinder dauerhaft daheim zu unterrichten? Eine Mutter, die genau das schon lange macht, erzählt aus ihrem Alltag.

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Familie beim Homeschooling

Familien, die am Unterricht zu Hause während des Corona-Lockdowns Freude hatten, könnten sich dies vielleicht auch längerfristig vorstellen (Symbolbild).

Getty Images

Am Montag haben die Schweizer Schulen ihre Türen wieder geöffnet. Doch weder bei den Kindern noch bei den Eltern hat das alle gefreut. Manche Familien haben es genossen, daheim ohne Ablenkung, Zoff und den einengenden Stundenplan lernen und einander unterstützen zu können. Und so nehmen beim Verein Bildung zu Hause Schweiz die Anfragen betreffend Homeschooling zu.

Doch Homeschooling sei etwas anderes als «der staatlich verordnete Fernunterricht mit den Eltern als verlängerter Arm der Lehrer» während des Corona-Lockdowns. Das sagt eine, die es genau weiss: Andrea Liniger, 38, ist studierte Sozialpädagogin und Kleinkinderzieherin, Coach für junge Mütter und selber Mutter von fünf Kindern, welche sie zu Hause unterrichtet. Sie erzählte in der SRF3-Gesprächsendung Focus aus ihrem Homeschooling-Alltag. «Unser Homeschooling bedeutet sehr selbstbestimmtes Lernen. Die Kinder wählen die Inhalte selber und bestimmen, wie lange und in welchem Tempo sie daran bleiben und wie viel Unterstützung sie wünschen.» Die Familie muss sich an den kantonalen Lehrplan halten und wird einmal pro Jahr von einem Schulinspektor kontrolliert.

Homeschooling ist nicht in jedem Kanton möglich

Homeschooling ist in der Schweiz aber nicht in jedem Kanton möglich. Linigers wohnen im Kanton Bern. «Hier ist es einfach, eine Bewilligung zu bekommen», sagt die Mutter. Auch die Kantone  Aargau oder Waadt erlauben Homeschooling, in anderen ist es schwieriger oder gar nicht möglich. Schweizweit werden aktuell 2000 Kinder daheim unterrichtet, Tendenz steigend.

Gründe dafür, warum sich Familien fürs Homeschooling entscheiden, sind häufig Probleme in der Schule. Das war auch bei den Linigers so, wie die Mutter im «Focus»-Gespräch erzählt: Ihr ältester Sohn hatte zwar eine tolle Klasse, einen guten Lehrer und ebensolche Noten an einer Steiner-Schule. Trotzdem erlitt er ein Burn-out, gab seine Hobbys auf und verlor jegliche Motivation. Da die Familie zu dieser Zeit auf eine längere Reise ging, musste er beginnen, selbständig zu lernen. «Und ich sah plötzlich mein Kind wieder, er sprudelte, ging eigenen Projekten nach, war stunden- und tagelang damit beschäftigt», erinnert sich die Mutter.

Als auch seine Schwester sagte, sie könne selbständig viel schneller und besser lernen, entschieden sich Linigers fürs Homeschooling. Sie machten ab, dass die Kinder jederzeit sagen dürften, wenn sie zurückwollten an die Schule. Doch das war nie der Fall. Mittlerweile haben die ältesten beiden Kinder die obligatorische Schulzeit abgeschlossen, der Sohn besucht eine Informatik-Mittelschule, für die er wie alle anderen die Aufnahmeprüfung gemacht hat, die Tochter hat sich für ein Gymnasium in einem Internat entschieden.

Die Kinder dürfen jeden Tag ausschlafen

Von den jüngeren drei Kindern unterrichtet Andrea Liniger nun zwei daheim, das jüngste ist erst ein Jahr alt. Ihr Tag beginnt so, wie es sich viele wünschen würden: «Sie dürfen ausschlafen, stehen so auf, wie es ihrem Biorhythmus entspricht.» Das sei meistens zwischen acht und neun Uhr. Dann gibts für alle Zmorge, und gegen zehn Uhr haben sich alle an ihrem Platz eingerichtet und beginnen mit der Lernsequenz. «Jedes Kind entscheidet selber, woran es arbeiten mag, meistens sind es längere Lernprojekte», erzählt die Mutter. «Zwei bis drei Lernstunden pro Tag reichen, um die Lernziele des kantonalen Lehrplans zu erreichen», sagt sie. «Wir werden nicht unterbrochen, haben viel weniger Wartezeit als in einer Schule. Und wir müssen keine Pausen einlegen, denn wir versuchen, beim Lernen in den Flow zu kommen. So erreichen wir in sehr viel kürzerer Zeit mindestens so viel wie in der Schule – oder sogar mehr.»

Andrea Liniger sieht ihre Rolle darin, ihre Kinder zu unterstützen, dass sie an einem Thema dran bleiben. Sie beobachtet, schaut, wie sehr ein Kind in den Flow kommt. Und stösst bei Bedarf etwas an, damit es sich noch stärker vertiefen kann.

Nicht in Fächer aufgeteilt

Linigers teilen das Lernen nicht in Fächer auf. Die Kinder behandeln jedes Thema fächerübergreifend, gehen innerhalb eines Projekts in die Breite und in die Tiefe. «Ein Kind beschäftigt sich zum Beispiel mit einheimischen Vögeln, baut dann einen Nistkasten, berechnet dafür Dinge, geht ins Gestalterische über. Wir lernen in ganzen Projekten statt in abgeschnittenen Sequenzen», erklärt Andrea Liniger.

Die Nachmittage gestaltet die Familie frei, oft gehen sie nach draussen oder treffen sich mit anderen Homeschoolern. «Neben den zwei bis drei Stunden am Tisch entdecken und erforschen wir vieles in der Natur, in Workshops, beim Zusammenleben mit anderen Menschen.»

Vater und Kind machen Pizza

Auch beim Kochen kann man lernen: Beim Homeschooling gibts keine Trennung von Familie, Lernen und Freizeit (Symbolbild).

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Viel Kontakt zu anderen Menschen jeden Alters

«Homeschooling wie wir es machen bedeutet nicht Isolation. Wir pflegen viele soziale Kontakte, die Homeschooling-Familien im Kanton Bern sind gut vernetzt, treffen sich regelmässig, und die Kinder gehen in Vereine, pflegen Hobbys und Kontakte mit Leuten verschiedensten Alters. Wir sind unterwegs im Leben pur wie es ist.» Auf ihren Reisen für Hilfsorgansiationen kamen sie zudem in Kontakt mit ganz anderen Lebensbedingungen. Und als ihre älteren beiden Kinder ins Oberstufenalter kamen, waren sie ständig unterwegs, teilweise über mehrere Monate: Der Sohn weilte eine Zeit lang in der USA und in der Romandie, die Tochter ging jobben. «Die Kinder sind sehr frei, planen ihren Tag selber.»

Trotzdem gibt es auch bei Linigers Abläufe und Strukturen, an die sich alle halten müssen: Die Familie lebt in einer Wohngemeinschaft in einem grossen Bauernhaus mit einer gemeinsamen Küche. «Wir treffen uns, um gemeinsam im Garten zu arbeiten, planen viel zusammen, besprechen verschiedenste Themen. Wir kennen keine künstliche Trennung von Familie, Lernen, Freizeit.»

Doch auch die Homeschooling-Kinder müssen zwischendurch mit Lernfrust zurechtkommen, wie Andrea Liniger erzählt: «Sie stecken sich selber Ziele, manchmal zu hohe, sodass sie Rückschläge und Enttäuschungen erleben.» Sie sei aber nicht der Meinung, dass es nötig ist, möglichst viel Frust zu überleben um zu lernen, damit umzugehen. Wichtiger scheinen ihr viele Erfolgserlebnisse: «Das stärkt die Kinder in ihrer Persönlichkeit, und so lernen sie, mit Rückschlägen und Frust umzugehen.»

Von Christa Hürlimann am 14. Mai 2020 - 17:17 Uhr