Hasle BE im Emmental. Die Kirchenuhr schlägt zweimal. Die Sonne trägt das Licht des frühen Nachmittags in die Küche. Der Wind drückt gegen die Fenster. Sandra Mäder (52), Laura Jörin Mäder (30) und Lisa Camenzind (26) nehmen an einem Holztisch Platz und bieten Wasser an. Die dritte Schwester, Jana Mäder (28) ist verhindert und kann am Gespräch nicht teilnehmen. Die drei Frauen sind am Wohnort der Mutter zusammengekommen, um über ein Ereignis zu reden, das ihr Leben für immer verändert hat – das so traurig ist, dass man es auch als Zuhörer fast nicht erträgt. Und trotzdem bleibt am Schluss auch ein schönes Gefühl – wenn Laura sagt: «Gino ist irgendwie immer bei uns.»
Wie geht es Ihnen?
Sandra: Bei den ersten Rennen in der Saison hatte ich extrem Mühe. Ich kann auch keine ganzen Etappen mehr schauen. Normalerweise schaue ich ein Radrennen erst nachträglich – wenn ich weiss, dass alle ins Ziel gekommen sind. Dann verfolge ich die letzten zehn Kilometer. Aber vom diesjährigen Giro habe ich nichts geschaut.
Weshalb?
Sandra: Weil ich bei jedem Sturz das Gefühl habe, dass etwas Schlimmes passiert ist. Ich kann nicht wirklich sagen, weshalb. Früher lief im Büro jeweils nebenbei eine Etappe am TV. Aber heute kann ich nicht mehr dasitzen und ein ganzes Rennen schauen.
Laura: Ich habe das Interesse am Verfolgen des Radsports verloren. Aber ich war eigentlich immer ein schlechter Fan. Bei mir in der Schule mussten mir jeweils die Abwarte sagen, dass Gino wieder sehr gut gefahren sei. An der Tour de Suisse verfolgte ich die Gedenkfahrt. Ich glaube, das war das letzte Velorennen, das ich im Fernsehen geschaut habe.
Lisa: Kürzlich war ich in einem Laden und realisierte, dass eine Giro-Etappe am TV läuft. Da stand ich vor dem Bildschirm – und wer wird gross im Bild gezeigt? Magnus (Sheffield, der US-Amerikaner, der mit Gino am Albula stürzte / Red.). In jenem Moment dachte ich: Ich bin froh, dass Magnus auf dem Velo sitzt. Aber in mir kamen derart viele Emotionen hoch, dass ich mich sofort abwenden und entfernen musste. Ich dachte: Es könnten 100 andere Fahrer sein, die man am TV sieht – aber es war Magnus auf dem letzten Kilometer des Zeitfahrens.
Laura: Es ist schön zu sehen, dass es Magnus gut geht – dass er fährt. Da stürzen zwei am selben Ort ein Tobel hinunter: Einer hat eine Gehirnerschütterung – der andere ist lebensgefährlich verletzt und wacht nie mehr auf.
Lisa: Für mich war es ein Zeichen von oben, als ich Magnus sah. Verstehen Sie mich nicht falsch: Hokuspokus sagt mir nichts. Aber ich bin überzeugt: Das war wie ein Zeichen von Gino.
Wie blicken Sie heute auf jenes fatale Ereignis zurück?
Sandra: Für mich war es Schicksal. Einige fragten mich: Was, wenn Gino den Giro gefahren wäre? Was, wenn er ein anderes Programm gehabt hätte? Dann wäre er vielleicht an diesem 15. Juni genauso auf dem Rad gesessen – und vielleicht von einem Auto angefahren worden. Das wäre für mich schlimmer gewesen; wenn jemand anders ein Fehler gemacht hätte. Ich bin keine Kirchengängerin, aber für mich ist es so: Mit dem Tag der Geburt ist auch das Ende vorgegeben. Das Leben ist vorbestimmt – da kann man nichts machen. Weshalb stirbt jemand während einer Operation? Oder kurz nachher? Unsere Zeit auf dieser Erde ist begrenzt. Und Ginos Zeit lief an jenem Tag ab.
Sie sagten kürzlich, dass Sie seinen Tod noch immer nicht akzeptieren können. Hat sich dies geändert?
Sandra: Nein. Für mich ist es noch immer nicht real. Aber natürlich weiss ich, dass Gino nie mehr durch die Tür kommen wird.
«Für mich ist es noch immer nicht real. Aber natürlich weiss ich, dass Gino nie mehr durch die Tür kommen wird»
Sandra Mäder
Laura: Ich glaube, man darf es sagen: Es ist ein-fach ein grosser Mist, was geschehen ist. Es tut uns allen extrem weh. Wir vermissen Gino jeden Tag. Aber wir dürfen auch mit Stolz sagen: Gino wird von allen Menschen geschätzt. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand ein schlechtes Wort über ihn verloren hätte. Er war nie in einen Skandal verwickelt. Er hat so viel bewirkt und so viel bewegt.
Lisa: Akzeptieren ist ein falsches Wort. Man kann den Tod nicht akzeptieren. Man kann nicht etwas akzeptieren, auf das man keinen Einfluss hat – man kann versuchen, damit umzugehen.
Laura: Es gibt Tage, da geht es uns besser. Das heisst aber nicht, dass wir Gino nicht vermissen, dass wir nicht traurig sind. Trauer ist ein Prozess, ein unglaublich schwieriger Prozess. Aber wir dürfen dankbar sein, was wir durch den Tod von Gino mitnehmen konnten. Wir kennen ihn als Bruder – als nahestehenden Menschen. Aber es ist sehr schön zu sehen, wie er sonst noch wahrgenommen wurde. Ich hätte nie gedacht, dass mein Bruder je für jemanden ein Idol sein würde.
Wann haben Sie realisiert, dass Sie loslassen müssen?
Sandra: Eigentlich mit der ersten Whatsapp-Nachricht, die ich am Tag des Unfalls erhalten habe. Und spätestens dann, als wir in Chur im Spital-Parkhaus waren und klingeln und erklären mussten, wer wir sind – und die Frau am Empfang sagte: «Gut, seid ihr da.» Als Andy (der Vater von Gino / Red.) und ich oben im Vorraum der Intensivstation waren, befanden sich dort der Teamarzt und ein Chauffeur der Mannschaft. Beide weinten. Wir klingelten und wurden von sieben Personen informiert, wie es weitergeht. Die eine Ärztin putzte sich immer die Tränen ab. Du wirst in einem Raum platziert – und am Schluss sitzen sieben Personen um dich rum und erzählen, was passiert ist: vom Heli, vom Krankenauto. Ich sagte: «Es tut mir leid, es interessiert mich nicht, wer ihr seid. Ich will nur wissen, wie es Gino geht.» Und als wir endlich in die Intensivstation reindurften zu Gino, realisierten wir, wie schlimm es ist: Wenn man einen Menschen derart verkabelt sieht, der permanent Medikamente verabreicht erhält, da musst du nicht vom Fach sein, um zu spüren, was los ist. Mir sagte eine Ärztin: «Ich versichere euch: Gino hat nichts mehr gespürt. Er war sofort bewusstlos.» Sie sagte mir, dass sie ihren Bruder durch einen Velounfall verloren habe; sie wisse genau, was ich denke und was ich fühle. Aber sie verspreche hoch und heilig, dass Gino nichts mehr gemerkt habe; auch nicht, als er im Bach lag. Dann sagte man uns ganz klar: Er wird nie mehr Mami sagen – er wird nie mehr alleine essen oder trinken.
Wo ist Gino jetzt?
Laura: Überall, wo wir sind.
Lisa: Überall und nirgends.
Sandra: Wir tragen Gino alle bei uns – in Form unseres Schmucks. Den haben wir aus seiner Asche herstellen lassen. Es gibt ein Atelier, das auf Gedenk- und Erinnerungsschmuck spezialisiert ist. Gino selber liegt in Altstetten auf dem Friedhof.
Laura: Und er ist in unseren Erinnerungen, in unseren Gedanken. Er gibt uns immer mal wieder Kraft und eine Idee. Er hat so wahnsinnig viel bewegt, dass wir sagen dürfen: Er ist immer irgendwie da. Mit allem, was er in seinem Leben ermöglicht hat, wird er immer in irgendeiner Form auf dieser Welt bleiben; auch wegen seines Kampfs für die Umwelt. Wie er die Menschen dazu bewegte, ein kleines Stückchen Natur zu erhalten oder ein kleines Stück Wiese zu bewahren.
Lisa: Wenn ich mit Gino sprechen will, rede ich mit ihm. Da muss ich nicht auf den Friedhof gehen. Es ist schwierig, an ein Grab zu stehen und das zu fühlen, was man fühlen will. Das Gefühl ist zu intim.
Sandra: Ich bin häufig auf dem Friedhof in Zürich Altstetten. Ich kann gut am Sonntagmorgen für eine Viertelstunde hinfahren. Dann spreche ich mit Gino und frag ihn, wer dies und das hingestellt hat. Länger als 15 Minuten bleibe ich aber kaum. Und ich gehe auch nicht mit jemandem Fremdes dorthin.
Was bedeutet es Ihnen, dass durch Ginos Tod andere Menschen gerettet werden konnten?
Lisa: Wenn diese tragische Geschichte irgendeinen Sinn haben sollte, ist es, dass seine Organe anderen Menschen geholfen haben. Gino hat das Herz, die beiden Nieren und die Leber gespendet. Wir wussten, dass er seine Organe spenden will. Vier Menschen konnten davon profitieren.
«Es war ein grosses Glück, dass gerade vier Empfänger mit der gleichen seltenen Blutgruppe auf Organe warteten»
Sandra Mäder
Sandra: Zuerst denkst du: nur vier Organe. Aber in der Regel kannst du nur ein oder zwei Organe brauchen. Es war ein grosses Glück, dass gerade vier Empfänger mit der gleichen seltenen Blutgruppe auf Organe warteten. Diese Patienten wären gestorben, wenn keine Organe vorhanden gewesen wären. Für diese Menschen war die Chance sehr klein, dass sie ein passendes Organ finden würden.
Laura: Ich bin sicher, dass Ginos Organe gute Funktion leistet. Gino hatte ein grosses Herz und ein gutes. Es ist doch sehr schön, dass vier Menschen dank Gino weiterleben dürfen.