Für Frieda Hodels (42) Tochter Zuria endete ein Ohrenpiercing auf dem Notfall. Nachdem der Verschluss ihres Steckers im Ohrloch verschwand, musste die 6-Jährige ins Spital. Für Zuria ein Schrecken mit Happy End: Die Ärztinnen entfernen den Verschluss und geben Zuria einen Spray zum Desinfizieren mit nach Hause mit.
Wie oft kommt es aber wirklich zu Entzündungen und wie problematisch sind Piercings bei Kindern und Jugendlichen wirklich? Und stimmt es, dass es problematisch ist, wenn Apotheken mit pistolenähnlichen Geräten Ohrlöcher schiessen? Diese Behauptung zumindest stellte die berühmte Schweizer Percerin Sandy Jaspers im Gespräch mit SI Family auf.
Eine Fachperson, die da wohl am besten Auskunft geben kann, ist Irmela Heinrichs, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin.
Liebe Frau Heinrichs, das Piercen mittels pistolenähnlichen Geräten ist umstritten. Die eine Seite sagt, ein quasi Schnellschuss ist nicht gut für Ohrenlöcher, Apotheker:innen derweil sehen keine Probleme damit. Was für eine Einschätzung haben Sie?
Im Praxisalltag sehen wir sowohl bei gestochenen als auch geschossenen Ohrlöchern Entzündungen. Es scheint sich eher um ein Handling- und Pflegeproblem im Alltag zu handeln als um ein Problem der Einlage. Die häufigsten Komplikationen treten in der ersten Zeit nach dem Anlegen des Schmucks auf. Als Kinderärzt:innen machen wir uns dabei natürlich Gedanken um einen möglichst schmerzfreien Eingriff, so wie wir es bei unseren Impfungen versuchen.
Aus ärztlicher Sicht: Ab welchem Alter finden Sie es okay, Kindern Ohrlöcher zu stechen?
Wichtig ist ein altersadäquater Umgang mit dem Kind und die richtigen Hygienemassnahmen. Wir sehen im Alltag vor allem Unterschiede bei verschiedenen Kulturkreisen. Eine Altersgrenze ist anatomisch oder medizinisch nicht festgelegt.
Gibt es medizinisch einen Unterschied zwischen die Ohrlöcher stechen und Ohrlöcher piercen?
Beim Ohrlochschiessen kann es vermehrt zu Gewebsverletzungen kommen. Eine kanadische Studie hat 2022 gezeigt, dass unhygienische Bedingungen, mangelnde Erfahrung in der Durchführung und Gewebeverletzungen nach Ohrlochschiessen zu vermehrten Blutungen und Infektionen führen können.
Worauf muss medizinisch geachtet werden nach einem Piercing?
Eine Hautwunde ist immer eine Eintrittsstelle für allerhand Bakterien, Pilze und Viren. Darum ist eine richtige Reinigung bei Wunden durch Piercings und anderen Körperschmuck sehr wichtig. Dazu gehört gründliches Händewaschen bevor das Piercing manipuliert wird. Zudem sollte man darauf achten, nicht immer wieder das Piercing zu berühren, auch wenn gerade ein neues Piercing dazu verführt.
Wie oft landen Kinder mit entzündeten Ohrläppchen nach einem Piercing bei Ihnen?
Wir sehen in der Praxis immer mal wieder Kinder mit entzündeten Ohrläppchen oder eingewachsenen Ohrsteckern, die die Familie zu Hause nicht aus dem Ohr lösen konnte. Normalerweise ist es aber mit Desinfektion und im schlimmsten Fall Antibiotika gut behandelbar. Und die eingewachsenen Ohrstecker lassen sich in der Praxis meist gut mithilfe von betäubender Creme entfernen – wir haben ein bisschen Übung. Genaue Zahlen sind mir nicht bekannt.
Wie oft behandeln Sie derweil entzündete Piercings bei Jugendlichen?
So wie wir auch bei den kleinen Kindern entzündete Ohrlöcher behandeln, gibt es auch hie und da entzündete Piercings. Aber es ist nicht so, dass wir jede Woche Patienten mit entzündeten Piercings in der Sprechstunde hätten. Es muss dennoch bedacht werden, dass allergische Reaktionen, Blutungen, Ein- und Ausrisse, Infektionen, wuchernde Narbenbildung oder Verwachsungen, Nervenlähmungen oder Schwellungen auftreten können. Auch Zähne, Zahnfleisch und Zahnschmelz können betroffen sein.
Kann es auch zu schwerwiegenden Komplikationen kommen?
Ja, dazu zählen Sepsis, Hepatitis, Herzinnenhautentzündungen und Hirnabzesse. Das sind aber Ausnahmefälle. Schwere Blutvergiftungen nach Ohrlochstechen sind mir aber aus dem Praxisalltag nicht bekannt.
Gibt es besondere «Problempiercings»?
Am häufigsten sehen wir Ohrläppchen- und Bauchnabelpiercingentzündungen, wahrscheinlich weil sie so häufig sind. Komplikationsträchtig sind vor allem die hohen Ohrpiercings im Knorpel.
Was müssen Teenager wissen, die sich piercen lassen wollen?
Teenager gehören gut aufgeklärt. Die möglichen Komplikationen (Einrisse, Ausrisse, Blutungen, Infektionen, Narben, Ausschlag) sollten genannt werden. Es ist auch wichtig zu besprechen, welche Konsequenzen das Loch hat und wie es aussieht, wenn später der Wunsch besteht, kein Piercing mehr zu tragen.
Worauf sollen Teenager achten, wenn sie sich piercen lassen?
Aus medizinischer Sicht sind die korrekte Applikation und die richtige Hygiene sehr wichtig. Zudem sollte auch im Anschluss auf die richtige Pflege geachtet werden. Wichtig ist auch die Wundheilungszeiten zu beachten (Wundheilungszeiten z.B. Ohrläppchen 6-8 Wochen, Nasenflügel 2-4 Monate).
Was macht ein seriöses Piercingstudio aus?
Die hygienischen Bedingungen und die Erfahrung des Piercers. Ein seriöses Piercingstudio gibt auch Informationen zur Nachsorge (Aftercare). Seriös ist auch ein Piercingstudio, welches sich an die Richtlinien hält und bei Minderjährigen eine Einwilligung der Eltern verlangt.
Finden Sie es okay, dass sich Teenager schon piercen lassen oder sind Sie für ein Mindestalter von 18 Jahren?
Bei Jugendlichen ist es noch wichtig zu beachten, dass sie sich nicht nur als einer Laune heraus oder aus Gruppenzwang tätowieren oder piercen lassen. Weniger als bei Tattoos sind aber auch Piercings an sichtbaren Stellen gegebenenfalls relevant für eine potenzielle Arbeitsstelle. Bei Kontaktsportarten sollten keinen Piercings getragen werden, um Verletzungen zu vermeiden. 2017 hat die American Association of Pediatrics schon dazu aufgerufen, Jugendliche frühzeitig gut zu aufzuklären bezüglich Tattoos und Piercing, ähnlich wie der sogenannte Sex-Talk. Unbedingt sollen sie sich medizinisch vorstellen, wenn das Piercing sich entzündet und es grosszügig entfernen, gegebenenfalls auch kaputt machen. Insgesamt muss man aber sagen, wenn wir bedenken, wie viele Piercings getragen werden, sehen wir im Alltag wenig Komplikationen.
Dr. med. Irmela Heinrichs ist Vorstandsmitglied von Kinderärzte Schweiz, dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt:innen in der Praxis.