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Das sollten Eltern wissen

Tics bei Kindern: Ein Grund zur Sorge?

Die einen zucken mit den Augen, andere rümpfen dauernd die Nase: Tics sind bei Kindern keine Seltenheit. Ein Experte erklärt, wie Eltern darauf reagieren sollten und was der Unterschied zwischen einem Tic und dem Tourette-Syndrom ist.

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Tics und Tourette bei Kindern: Ein Grund zur Sorge?

Vorübergehende Tics wie Naserümpfen oder Blinzeln müssen kein Grund zur Sorge sein.

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Michael Orth, wie viele Kinder haben Tics?
Rund zwei bis drei Prozent. Es ist also kein seltenes Phänomen. Meist treten die Tics im zweiten und dritten Schuljahr auf – also dann, wenn im Gehirn besonders viel an Entwicklung passiert. Nach zirka drei Monaten verschwinden sie oft wieder.

Welche Tics sind besonders häufig?
Augen-Tics wie Blinzeln, Zwinkern und Augenrollen, sowie Schniefen oder sich Räuspern. Ebenso das Naserümpfen oder den Mund verziehen. Im Grunde können jeder Ausdruck der mimischen Muskulatur, jede Bewegung und jedes Geräusch zu einem Tic werden. Er ist eine Art Karikatur einer normalen Bewegung, da sie übertrieben ausgeführt wird.

<p>Michael Orth ist Leiter des Neurozentrums und Chefarzt Neurologie der Stiftung Siloah in Gümligen BE.</p>

Michael Orth ist Leiter des Neurozentrums und Chefarzt Neurologie der Stiftung Siloah in Gümligen BE.

Müssen sich Eltern Sorgen machen, wenn ein Tic nach drei Monaten nicht verschwindet?
Nein, ein Tic ist kein Grund zur Sorge. Er wird erst dann zum Problem, wenn er die Lebensqualität des Kindes beeinträchtigt. Beispielsweise, wenn das Kind wegen des Tics gehänselt wird und an Selbstbewusstsein verliert. Dann kann das Kind davon profitieren, wenn man die Situation genauer anschaut und überlegt, wie man sie verbessern kann. Spürt das Kind wegen seines Tics keine Nachteile und entwickelt es sich völlig normal, braucht man nichts zu unternehmen.

Ist es sinnvoll, das Kind dennoch auf den Tic anzusprechen?
Das ist nicht verkehrt, aber man muss dabei behutsam vorgehen. Gibt man dem Kind das Gefühl, dass es sich schlecht benimmt, fühlt es sich in die Ecke gedrängt. Besser ist es, zu sagen: «Mir ist aufgefallen, dass du oft blinzelst. Hast du etwas im Auge?» So erfährt man, wie das Kind den Tic selbst erlebt. 

Wann handelt es sich nicht bloss um einen Tic, sondern ums Tourette-Syndrom?
Von einem Tourette-Syndrom spricht man, wenn über eine längere Zeit mehrere motorische und mindestens zwei Geräusch-Tics vorliegen. Menschen mit einem Tourette-Syndrom haben ein grosses Repertoire an Tics, die kommen und gehen. Das verhält sich ähnlich wie bei einer Fussballmannschaft: Es stehen zwar nur elf Spieler auf dem Platz, aber es sind noch zehn weitere im Kader, die eingewechselt werden können. 

Welche Tics sind typisch bei Tourette?
90 Prozent der Menschen mit dem Tourette-Syndrom haben einen Augen-Tic. Zudem gibt es auch komplexere Tics: Manche müssen etwa ständig eine Pirouette drehen oder einen Luftsprung machen, andere imitieren fremde Akzente oder machen Tiergeräusche. 

Viele verbinden das Tourette-Syndrom mit unkontrollierten Fluch-Tiraden. Wie häufig ist das?
Dieser Tic ist zwar sehr auffällig, aber ziemlich selten. Nur etwa zehn Prozent der Menschen mit Tourette-Syndrom fluchen unkontrolliert vor sich hin. 

Kann das Tourette-Syndrom – genau wie einzelne Tics – mit der Zeit verschwinden?
Zumindest wird es bei der Hälfte der betroffenen Kinder und Jugendlichen bis zum 20. Lebensjahr deutlich besser. Ob sie komplett ticfrei werden und bleiben, ist aber unklar.

Wie wird das Tourette-Syndrom behandelt?
Oft führt es bereits zu einer deutlichen Verbesserung, wenn die Betroffenen die Tics akzeptieren und sich von ihnen weniger stressen lassen. Dabei kann psychologische Unterstützung helfen. Auch Kindern, die sagen, ihre Eltern hätten kein Verständnis für sie und ihre Tics, tut es gut, mit einer aussenstehenden Person zu sprechen. Leiden Kinder sehr unter ihren Tics und beeinträchtigen diese den Alltag, können unter Umständen Medikamente eingesetzt werden, die das Dopamin-System regulieren. 

Was können Eltern tun, um ein Kind mit Tics zu unterstützen?
Am wichtigsten ist es, die Tics als solche zu erkennen. Dann ist es ratsam, die Kinder freundlich darauf anzusprechen, sie aber auch in Ruhe zu lassen, wenn die Tics für sie kein Problem darstellen. Sind die Eltern unsicher, können sie sich an den Kinderarzt oder die Kinderärztin wenden und wenn nötig eine Expertin oder einen Experten aufsuchen. Zudem sollten die Lehrpersonen wissen, dass ein Kind den Unterricht nicht mit Absicht stört, sondern beispielsweise einen Geräusch-Tic hat. Grundsätzlich tun Eltern aber gut daran, nicht zu sehr zu dramatisieren. 

Wie meinen Sie das?
Verfallen Eltern in einen Aktivismus und schicken ihr Kind wegen der Tics zur Physiotherapie, Ergotherapie, ins Tai-Chi und zu weiteren medizinischen Fachpersonen, bekommt das Kind womöglich den Eindruck «mit mir stimmt etwas nicht». Das ist nicht förderlich. Ausserdem haben Tics und Tourette nichts mit der Intelligenz zu tun: Es gibt genauso hochintelligente Kinder, die davon betroffen sind wie auch solche mit einem durchschnittlichen IQ – und die meisten führen ein ganz normales Leben.

Von Fabienne Eichelberger (Service-Team) am 2. September 2025 - 18:00 Uhr