In der Schweiz wird jedes fünfte Kind regelmässig seelisch verletzt, wie eine Studie der Universität Freiburg zeigt. «Wenn du jetzt nicht aufhörst, schicke ich dich ins Heim», oder: «Du bist einfach zu blöd dafür!» sind zwei klare Beispiele für psychische Gewalt in der Erziehung. Manchmal geschieht diese auch subtiler. Wir nehmen den internationalen Tag der Kinderrechte heute zum Anlass, um aufzuzeigen, welche Folgen psychische Gewalt hat, und wie Eltern verhindern, in hitzigen Situationen herablassend mit dem eigenen Kind zu sprechen.
Andrea Christina Kramer (52), Psychotherapeutin und Dozentin am Institut für Angewandte Psychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), sagt: «Psychische Grenzüberschreitungen können allen Eltern passieren, niemand ist perfekt und muss es auch nicht sein.» Entscheidend sei, wie heftig und regelmässig psychische Gewalt in der Erziehung vorkomme.
Folgen bis ins Erwachsenenalter
Bereits Sätze wie «Gib dir doch mehr Mühe», oder «Wenn du das machst, hat dich niemand mehr gern» sind gemäss Expertin als Form von psychischer Gewalt einzustufen. Also sämtliche Aussagen, die Drohungen, Beleidigungen, Demütigungen und Angstmacherei enthalten. Auch bewusster oder unbewusster Liebesentzug verletze ein Kind psychisch. «Ein Kind, das regelmässig psychische Gewalt erlebt, fühlt sich sehr schnell wertlos und glaubt, dass es zu nichts taugt», sagt Kramer. Es könne kein Selbstwertgefühl entwickeln und fühle sich nicht bedingungslos geliebt. «Wenn es Kindern psychisch nicht gut geht, sehen wir von aussen, dass sie oft diffuse Schmerzen haben oder ihre schulischen Leistungen abnehmen.» Im Erwachsenenalter können sich die Folgen von psychischer Gewalt in Depressionen oder Bindungsschwierigkeiten widerspiegeln.
«Wir wissen, dass die Belohnung von erwünschtem Verhalten viel wirkungsvoller ist für eine Verhaltensänderung als die Bestrafung von Missverhalten.»
In einer gewaltfreien Erziehung sind gemäss Expertin drei Fähigkeiten zentral: Selbstreflexion, Einfühlungsvermögen und Perspektivenübernahme. «Selbstreflexion bedeutet, zu wissen, dass man als Mutter oder Vater in der verantwortungsvollen Rolle ist und dass ein Kind, das nicht gehorcht, seine Autonomie verteidigt. Man muss deswegen nicht auf persönlicher Ebene beleidigt sein.» Einfühlungsvermögen sei wichtig, um sich als Mutter oder Vater vorstellen zu können, wie sich ein Kind fühle. «Bei der Perspektivübernahme versetzt man sich als Elternteil in die Sichtweise des Kindes, um zu verstehen, wieso es etwas Bestimmtes tut oder möchte», sagt Kramer. Der «gute Grund» hinter dem Verhalten helfe den Eltern, darauf zu reagieren, statt auf sein Tun. Was in der Theorie verständlich ist, kann sich in der Praxis womöglich als schwierig erweisen.
Anhand von drei Beispielsituationen beschreibt die Expertin, wann es sich bei einem bestimmten Verhalten um psychische Gewalt handelt und wie Eltern eine angemessene Lösung finden:
1. Das Kind folgt wiederholt nicht und deshalb verbannt die Mutter es für eine Stunde ins Kinderzimmer.
Kramer sagt: «Ein Kind in sein Zimmer zu begleiten, damit es zur Ruhe kommen kann, ist eine angemessene Reaktion. Wichtig ist aber, dass man es dem Kind erklärt und es nur so lange bleiben muss, bis es sich beruhigt hat. Eine Stunde ist zu lang. Im Zimmer soll das Kind seine Kuscheltiere, sein Spielzeug oder seine Hörbücher haben, mit denen es spielen kann. Kontraproduktiv wäre es, wenn man die Tür abschliesst oder das Kind in einen Raum einsperrt, wo es kein Spielzeug hat. Fühlt man sich in das Kind hinein, wenn man diese Strafe ausspricht, merkt man, dass das Einsperren in einen ungemütlichen Raum beim Kind Angst und Stress auslöst. Das ist psychische Gewalt.»
2. Der Vater beschliesst, nicht mehr mit seinem Kind zu reden, bis es sein Zimmer aufgeräumt hat.
«Das ist eine Form von Liebesentzug und könnte anders gelöst werden», sagt Kramer. «Wir wissen, dass die Belohnung von erwünschtem Verhalten viel wirkungsvoller ist für eine Verhaltensänderung als die Bestrafung von Missverhalten. Jeden Abend, wenn das Kind sein Zimmer aufgeräumt hat, bekommt es zum Beispiel einen Sticker. Bei zehn Stickern kann man dem Kind – je nach Alter und Situation – eine angemessene Belohnung geben. Es darf zum Beispiel das Dessert aussuchen für Sonntag oder zehn Minuten länger am Tablet sein. Selbstverständlich sollte nicht alles belohnt werden, weil es sonst die Wirkung verliert. Und noch besser ist es, wenn die ganze Familie miteinbezogen wird, weil die meisten Regeln sowieso für alle gelten und das Zusammenleben regeln.»
3. Die Mutter droht ihrem Kind, das auf dem Spielplatz bleiben will: «Dann gehe ich jetzt ohne dich nach Hause.»
Kramer sagt: «Eine solche Drohung rutscht einem schnell heraus, ist aber selten hilfreich. Sie ist eine Form von Liebesentzug und löst beim Kind Stress aus, weil es ohne Mutter auf dem Nachhauseweg aufgeschmissen wäre. Gleichzeitig entwickelt sich ein Machtspiel. Das Kind weiss, dass seine Mama es nicht allein lassen kann, weil es zu gefährlich wäre. Es kann sich also einfach weiter weigern, den Spielplatz zu verlassen. Die Mutter sollte deshalb ein Machtspiel verhindern und versuchen, zu verstehen, warum das Kind noch nicht nach Hause möchte.
Da es meistens um das Bedürfnis geht, selbst bestimmen zu können und Autonomie zu erleben, könnte die Mutter dem Kind eine verantwortungsvolle Aufgabe zu Hause anbieten: ‹Ich bin froh, wenn du mit mir nach Hause kommst und mir helfen kannst, den Tisch zu decken›, oder auch erklären, warum man das Kind jetzt in seiner Selbstbestimmung einschränkt. Nämlich, weil man die Elternpflicht der Aufsicht wahrnimmt: ‹Ich bin verantwortlich, dass du etwas zu Abendessen hast, deshalb müssen wir jetzt nach Hause gehen›. Vielleicht will das Kind unbedingt auf dem Spielplatz bleiben, weil es Angst hat, etwas zu verpassen. Dann kann ein Satz helfen wie: ‹Die anderen Kinder gehen bestimmt auch gleich nach Hause, weil es bald dunkel wird.› Man kann das Kind auch in seinem gesunden Autonomiebestreben unterstützen und ihm die Wahl lassen: mehr Zeit auf dem Spielplatz oder Kindersendung im Fernsehen.»