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Suchtprobleme

«Ziele gemeinsam erarbeiten»

«Die Suchtfachleute begegnen heute ihren Klienten auf Augenhöhe», sagt Experte Dr. med. Toni Berthel. Eine abstinenzorientierte Behandlung von Alkoholabhängigen sei daher nur noch eine unter vielen Methoden.

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Von Alkohol abhängig sind in der Schweiz 300 000 Menschen. Zusammen mit den Angehörigen sind damit eine Million Menschen unmittelbar von einem Alkoholproblem betroffen. Doch weniger als zehn Prozent der Patienten sind in Behandlung. Dr. med. Toni Berthel, Ärztlicher Co-Direktor Integrierte Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland und Präsident der Eidgenössischen Kommission für Drogenfragen, sagt, weshalb Alkoholismus eine so verschämte Krankheit ist und was man am besten dagegen tut.

Weshalb wird das Suchtproblem Nummer 1, der Alkohol, so verdrängt?
Alkoholabhängigkeit und Sucht werden mit Lasterhaftigkeit in Verbindung gebracht. Das macht Angst. Darum wenden wir uns von Menschen mit Alkoholproblemen ab. Viele von uns trinken regelmässig selber Alkohol. Im Anblick des anderen, der Alkohol trinkt, werden wir auch mit unserem eigenen Konsumverhalten konfrontiert. Viele von uns haben sich schon überlegt, ob sie ihren Konsum noch im Griff haben. Psychologisch sprechen wir von Abwehr.

Weshalb unterzieht sich nur ein Bruchteil der Betroffenen einer Therapie?
Probleme, die mit Kontrollverlust einhergehen oder die als Laster beurteilt werden, sind stark schambehaftet. Menschen mit Suchtproblemen fällt es deshalb häufig schwer, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Suchtprobleme werden von der Gesellschaft in der Regel mit Selbstverschulden in Verbindung gebracht. Das verstärkt die Schamgefühle und die Angst, Hilfe zu suchen. Häufig bestehen auch falsche Vorstellungen, wie eine Beratung und die Behandlung ablaufen.

Ist totale Abstinenz noch zeitgemäss?
Viele Jahrzehnte wurde die Behandlung einer Alkoholproblematik mit Abstinenz gleichgesetzt. Heute wissen wir, dass ein Grossteil der Menschen, die zu viel Alkohol konsumieren, ohne professionelle Hilfe auf den Alkohol verzichten oder die Konsummenge reduzieren kann. Das heisst, die Fähigkeit, Konsumgewohnheiten zu ändern, ist auch bei Abhängigen vorhanden. Der Ausspruch «Einmal suchtkrank, immer suchtkrank» ist falsch. Auch in der Beratung und Behandlung werden heute Ziele gemeinsam erarbeitet. Da kann sich jemand für Abstinenz, einer für kontrollierten Konsum und wieder ein anderer für Gelegenheitskonsum entscheiden.

Wann kann und soll der Patient mitreden und mitentscheiden?
Die Suchtfachleute begegnen heute ihren Klienten auf Augenhöhe. Ziel ist Selbstverantwortung und Selbstkompetenz. Weg vom Paternalismus und von aussen vorgegebenen Zielen, hin zu einem selbstverantworteten Konsummuster. Suchterkrankungen gehen mit Rückfällen einher. Wir müssen das in unserer Behandlung berücksichtigen. Wenn ausschliesslich Abstinenz als Ziel definiert wird, tun wir unseren Patienten unrecht und verstärken ihr Leiden. Eine abstinenzorientierte Behandlung ist daher nur noch eine unter vielen Methoden. Die Behandlung von Menschen mit Suchtproblemen ist erfolgreich, wenn der Kontakt auf Gleichwertigkeit beruht und eine nicht wertende Beziehung aufgebaut werden kann.

Wie funktioniert kontrolliertes Trinken?
Entscheidet sich jemand für den kontrollierten Alkoholkonsum, werden Methoden zur Stärkung der Kontrolle über das Trinkverhalten geübt. Die gewünschte Trinkmenge und die Konsumtage werden festgelegt. Der Patient schreibt die jeweils konsumierte Menge auf, und in der Therapie werden die mit dem Konsum einhergehenden Gefühle, Situationen, Spannungen, Probleme, aber auch positiven Erlebnisse analysiert, bewertet und die nächsten Schritte vereinbart. Falls sinnvoll und gewünscht, werden mit der Alkoholproblematik in Verbindung stehende psychische und körperliche Probleme behandelt oder soziale Fragen bearbeitet. In der Regel finden wir bei Menschen mit Alkoholabhängigkeit auch andere psychische Probleme oder Störungen. Diese müssen häufig mit Medikamenten behandelt werden.

Wie schafft mans, weniger zu trinken?
Ein über lange Zeit festgefahrenes Verhalten kann man nicht so ohne Weiteres ändern. Als Erstes versuchen wir, das Trinkmuster zu erfahren. Dazu erstellt der Patient ein Trink-Tagebuch. Hier zeigt sich, wie viel, wann, weshalb und wo jemand trinkt. Das ist der erste Schritt, eine Veränderung einzuleiten. Wenn jemand weniger trinken will, versucht man, Ort, Zeitpunkt und Menge des Konsums festzulegen und langsam die Trinkmenge zu reduzieren. Wenn jemand einen ambulanten Entzug machen will, geben wir Medikamente ab, welche die Entzugserscheinungen lindern. Gleichzeitig kommt der Patient täglich in der Beratungsstelle oder im Suchtambulatorium vorbei. Der Blutdruck wird gemessen, das Ausmass der Entzugserscheinungen wird abgeschätzt, mit dem Alkoholblasgerät wird ein allfälliger Alkoholkonsum gemessen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass ein professionell durchgeführter ambulanter Entzug ebenso erfolgversprechend ist wie ein stationärer Entzug. Damit die Kontrolle über den Alkoholkonsum erhalten werden kann, ist es angezeigt, immer wieder alkoholfreie Tage einzuschalten. Bei regelmässigem Konsum werden zwei alkoholfreie Tage pro Woche empfohlen. Auch ist es sinnvoll, immer wieder wochenweise auf Alkohol zu verzichten. Das kann helfen, Probleme am Arbeitsplatz, in der Familie oder körperliche Schäden zu verhindern.

Gibt es dazu auch eine medikamentöse Unterstützung?
Wir haben neuerdings Medikamente, die das Verlangen nach dem Suchtmittel Alkohol reduzieren. Es ist jedoch angezeigt, haus- oder fachärztliche Hilfe zu suchen. Nicht selten muss man mehrere Medikamente kombinieren und gleichzeitig andere psychische Probleme behandeln. Alkoholabhängigkeit kann alleine mit Medikamenten nicht erfolgreich behandelt werden. Es ist wichtig, ärztliche Hilfe mit suchttherapeutischen Methoden zu kombinieren. Gewarnt werden muss vor der lang dauernden Einnahme von Beruhigungsmitteln. Hier können sich rasch eine Gewöhnung und eine Suchtverschiebung einstellen.

Wohin soll man sich wenden?
Hilfe findet man beim Hausarzt, bei den Alkohol- und Suchtberatungsstellen, die in allen Regionen der Schweiz spezialisierte Unterstützung anbieten, oder den Suchtambulatorien, die es in vielen grösseren Städten gibt.

Von Dr. med. Samuel Stutz am 21. November 2015 - 21:24 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 15:39 Uhr