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Ein Fall für Stutz

Körper ist steif: Krankhaft unbeweglich!

Bereits am Morgen kann sich ein verzweifelter Leser nicht mehr bewegen: Er schafft es kaum aus dem Bett, das Kopfdrehen ist schier unmöglich, und an Sport ist nicht mehr zu denken – der ganze Körper ist steif. Kein Arzt kann ihm helfen. Dr. Stutz macht sich auf Spurensuche.

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«Ich bin 61 Jahre alt und arbeite im Aussendienst, bin viel im Auto unterwegs. Bis zum Herbst 2014 habe ich wenig Sport gemacht. Im Frühling 2015 habe ich wieder angefangen zu joggen, denn ich fühlte mich steif und starr, konnte mich nicht mehr wie früher bewegen, meine ganze Beweglichkeit war stark eingeschränkt. Auch Kopfdrehen links und rechts war schlecht möglich. Nach einigen Tagen bin ich beim Joggen in der rechten Hüfte eingeknickt, erst wenig, dann immer öfter. Der Arzt hat Arthrose diagnostiziert, hat aber einen Tag später seine Meinung revidiert und mich zum Neurologen geschickt. Wohl auch deswegen, weil ich keine Schmerzen habe. Der Neurologe hat nichts gefunden, auch ein MRI hat nichts gebracht. Die Osteopathin hat mich zum Orthopäden geschickt, der mir Einlagen angefertigt hat. Nun laufe ich wieder gerade, kann auch wieder ohne Probleme gehen und walken. Die Unbeweglichkeit ist geblieben. Die Übungen auf dem Vitaparcours schaffe ich, sobald es um Beweglichkeit geht, nicht mehr. Die Osteopathin meint, das müsse sich erst wieder einrenken. Nach fünf Sitzungen bei ihr, bei denen es mir anschliessend schlechter geht als vorher, glaube ich nicht mehr so recht daran. Nach einer Stunde Autofahren steige ich stocksteif aus. Es fühlt sich an, als ob ich 150 Kilo wiege. Nach dem Duschen komme ich kaum an die Zehen, um sie abzutrocknen. Am Morgen steige ich mit viel Geknorze aus dem Bett, nach einigen Minuten geht es besser. Strassenkreuzungen muss ich möglichst in einem rechten Winkel anfahren, weil ich den Kopf nicht mehr richtig drehen kann. Arme und Beine sind wieder recht beweglich, alles, was mit Bücken, Knien und Drehen zu tun hat, macht mir Mühe. Mir tut nichts weh, an keiner Stelle. Haben Sie eine Idee, was ich noch machen könnte?»

Dieser Leser braucht vor allem eines: eine vernünftige Abklärung, anstatt das Alter als Ursache zu nennen! Denn mit 61 Jahren ist heute niemand mehr alt. Und die Socken nicht mehr anziehen und den Kopf beim Autofahren nicht mehr zurückdrehen können hat mit dem Alter gar nichts zu tun, sondern weckt eher den Verdacht auf eine entzündliche rheumatische Erkrankung, allen voran Morbus Bechterew, auch wenn gewöhnlich eher Jüngere davon betroffen sind.

«Die Beschreibungen des Patienten zeigen typische Symptome wie beispielsweise Morgensteifigkeit oder Rückenschmerzen, die länger als drei Monate dauern und die bei Bewegung besser werden», bestätigt die Schweizerische Vereinigung Morbus Bechterew. «Der Fall zeigt, dass es eine grosse Herausforderung für die Patienten ist, wenn sie keine Diagnose haben und nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen. Im Schnitt dauert es bei Bechterew immer noch sechs Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt wird. In diesen Jahren wären wichtige Therapieerfolge möglich, um den späteren Verlauf der Krankheit positiv zu beeinflussen.»

Also schickten wir unseren Leser zu einem versierten Rheumatologen. Dieser machte sämtliche notwendigen Tests, angefangen bei einer Blutuntersuchung über ein MRI bis hin zur Knochenszintigrafie, bei der mit radioaktiv markierten Stoffen der Knochenstoffwechsel untersucht und entzündliche Veränderungen sichtbar gemacht werden können. Das Resultat aller Untersuchungen: kein erhöhter Knochenstoffwechsel, keine sichtbaren entzündlichen Veränderungen, keine wesentliche Destruktion des Knochens. Ein Bechterew fiel damit aus der Liste möglicher Ursachen raus.

Danach machte der Rheumatologe einen Therapieversuch mit Cortison, weil er einen bestimmten Verdacht hegte. Kurz darauf schrieb der Patient Folgendes: «Seit Samstagmorgen nehme ich nun täglich 50 mg Prednison. Am Samstagabend fühlte ich Wärme in den Schultern, im Nacken und im Hüftbereich. Am Sonntagmorgen bin ich wie ein junger Hüpfer aus dem Bett gestiegen, ohne Geknorze und ohne Mühe. Den Kopf konnte ich wieder drehen, die Beine übereinanderschlagen, die Füsse problemlos abtrocken und die Socken verwindungsfrei anziehen. Heute musste ich beim Autofahren rückwärtsfahren. Ich konnte mich im Autositz umdrehen und zur Heckscheibe hinaussehen. Nach einer Stunde Autofahrt konnte ich sofort gerade gehen.»

Wie ist das zu erklären? Und wie ist es zu verstehen, dass es dem Patienten sofort wieder schlecht ging, als der Behandlungsversuch mit Cortison beendet war? «Man konnte praktisch zusehen, wie es mir wieder schlechter ging. Stündlich hat die Unbeweglichkeit wieder zugenommen.»

Unser Leser hat eine sogenannte Polymyalgie rheumatica. Dabei handelt es sich um eine Erkrankung, die vorwiegend ältere Menschen betrifft. Das Durchschnittsalter liegt zwischen 60 und 70 Jahren. Rund einer von 200 Menschen ist gemäss Rheumaliga Schweiz betroffen. Frauen doppelt so häufig wie Männer. Die Ursache ist unbekannt, man vermutet einen Autoimmunprozess.

Die sofortige Reaktion auf Cortison ist für Polymyalgie typisch. Viele Patienten sagen: Ich bin wie neugeboren. «Dieses dramatische Ansprechen der Beschwerden ist so charakteristisch, dass dieser Umstand auch als diagnostisches Element betrachtet werden kann», schreibt die Rheumaliga.

Für unseren Leser bedeutet das: lang dauernde Cortison-Therapie nach dem Motto «So viel wie nötig und so wenig wie möglich». Um die Cortison-Dosis und somit das Risiko einer Osteoporose möglichst gering zu halten, werden andere potente Wirkstoffe wie Methotrexat dazugegeben. Die Chance, dass die Krankheit nach einem Jahr konsequenter Therapie abheilt, ist gross.

Dr. Samuel Stutz analysiert Schicksale, die unter die Haut gehen.

Dr. Samuel Stutz analysiert Schicksale, die unter die Haut gehen.

ZVG

Sind Sie ein scheinbar unlösbarer «Fall»? Schreiben Sie an sprechstunde@doktorstutz.ch.

Von Dr. Samuel Stutz am 26. September 2015 - 15:58 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 15:48 Uhr