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Andrea Gmür über Drohnen, Cyberangriffe und Desinformation

«Der Bundesrat muss endlich aufwachen»

Als Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission schlägt Andrea Gmür Alarm. Die Landesregierung setze die Prioritäten falsch – bei den Finanzen statt bei der Sicherheit. Warum sie den Militärdienst jeder jungen Frau empfiehlt.

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<p>Die Luzerner Ständerätin Andrea Gmür in der «Fake News»-Ausstellung im Verkehrshaus Luzern. «In der Cyberabwehr müssen wir dringend aufstocken.»</p>

Die Luzerner Ständerätin Andrea Gmür in der «Fake News»-Ausstellung im Verkehrshaus Luzern. «In der Cyberabwehr müssen wir dringend aufstocken.»

Kurt Reichenbach

Falschmeldungen, sogenannte Fake News, können gravierende Auswirkungen auf die Meinungsbildung in einem Land haben», sagt die Luzerner Ständerätin Andrea Gmür (61) während sie durch die «Fake News»-Ausstellung im Verkehrshaus Luzern geht. Für die Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission ist klar: «Die Schweiz muss mehr tun, um sich gegen die neuen Gefahren wie Cyberangriffe, Desinformationen oder Drohnen wehren zu können.»

Frau Gmür, sind Sie eine geduldige Person?

(Schmunzelt.) Ich bemühe mich immer wieder.

Bei der Sicherheit scheint Ihr Geduldsfaden gerissen zu sein. Ihre Kommission fordert den Bundesrat auf, so schnell wie möglich zu einer Klausur – also zu einer intensiven geschlossenen Beratung – zusammenzukommen, um eine sicherheitspolitische Gefahrenanalyse durchzuführen. Ist das nicht etwas alarmistisch?

Nein, im Gegenteil. Es gibt heute über 120 bewaffnete Konflikte weltweit, mehr als doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Der Gesamtbundesrat soll endlich eine umfassende Analyse vornehmen. Dass nun Sicherheitspolitikerinnen und -politiker von links bis rechts einstimmig eine Klausur fordern, zeigt, wie gross der Handlungsbedarf ist.

Was erhoffen Sie sich von der Klausur?

Massnahmen, um die Verteidigungsfähigkeit des Landes wiederherzustellen. Grosse Lücken sehe ich bei der Munition. Es ist ja absurd: Wir haben Waffen, aber keine Munition dafür. In der Drohnen- und Cyberabwehr müssten wir ebenfalls aufstocken. Weiter braucht es Schutz gegen Bedrohung aus dem Weltall und neue weitreichende Waffen.

Im April hat der Bundesrat eine Klausur zu den US-Zöllen einberufen, im Sommer gab es eine zum Wirtschaftsstandort. Warum klappts nicht bei der Sicherheit?

Die Finanzen sind ohne Zweifel essenziell für den Wohlstand in unserem Land. Aber wenn wir die Sicherheit nicht mehr gewährleisten können, ist auch der Wohlstand rasch weg. Der Bundesrat müsste die Prioritäten klar anders setzen. Die Sicherheit sollte oberste Priorität haben.

Seit April ist Ihr Parteikollege Martin Pfister Verteidigungsminister. Setzt er sich im Gremium zu wenig gegen Finanzchefin Karin Keller-Sutter durch?

Es geht nicht darum, wer sich durchsetzen kann. Es geht darum, wie der Bundesrat das Land vorwärtsbringt, wie er die Bevölkerung schützen kann. Da ziehen alle am gleichen Strick.

Mit dem Fokus auf die Finanzen …

VBS-Chef Pfister will bis Ende Jahr dem Gesamtbundesrat die sicherheitspolitische Strategie vorlegen. Ich hoffe wirklich, dass das Regierungskollegium spätestens dann den Handlungsbedarf sieht. Der Bundesrat muss endlich aufwachen!

<p>In Wattwil SG aufgewachsen, studierte Andrea Gmür in Freiburg Anglizistik und Romanistik und war mehrere Jahre als Gymi-Lehrerin tätig. Nach acht Jahren im Luzerner Kantonsparlament wurde sie 2015 Nationalrätin. Seit 2019 sitzt die vierfache Mutter im Ständerat. Sie ist mit Ex-Helvetia-Chef Philipp Gmür verheiratet und lebt in Luzern.</p>

In Wattwil SG aufgewachsen, studierte Andrea Gmür in Freiburg Anglizistik und Romanistik und war mehrere Jahre als Gymi-Lehrerin tätig. Nach acht Jahren im Luzerner Kantonsparlament wurde sie 2015 Nationalrätin. Seit 2019 sitzt die vierfache Mutter im Ständerat. Sie ist mit Ex-Helvetia-Chef Philipp Gmür verheiratet und lebt in Luzern.

Kurt Reichenbach

Jacques Pitteloud, Leiter der Schweizer Mission bei der Nato, sagte der NZZ: «Immer wenn ich in Zürich lande, habe ich das Gefühl, dass dieses Land in einer anderen Welt lebt.» Aus seiner Sicht sei das Bewusstsein für den Ernst der Lage erstaunlich wenig ausgeprägt.

Da gebe ich ihm recht. Wir sind keine Insel der Glückseligen. Neuerdings fliegen Drohnen nicht nur in der Ukraine , sondern auch über Dänemark, Deutschland oder Belgien. Ich habe das in Brüssel vor Kurzem selbst erlebt.

Erzählen Sie.

Ich reiste im Rahmen eines Arbeitsbesuchs zum Thema Sicherheit mit Nationalratspräsidentin Maja Riniker und Ständeratspräsident Andrea Caroni nach Belgien. Priska Seiler Graf, Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission im Nationalrat, sollte einen Tag später anreisen – doch ihr Flugzeug konnte nicht landen, weil Drohnen mit unbekannter Herkunft in der Luft waren und der Flughafen in Brüssel gesperrt wurde. Das war unheimlich zu hören. Ich warte nur darauf, dass über Zürich oder Genf Drohnen kreisen.

Übertreiben Sie da nicht?

Ich will keine Ängste schüren. Aber wir befinden uns schon in einem hybriden Krieg mit Desinformationen und Fake News. Die Drohnen verunsichern die Menschen zusätzlich. Ich bin schon erstaunt, warum unsere Regierung, die ja oft international unterwegs ist, das nicht sieht.

Sie haben dem Bundesrat eine Sicherheitsanleihe vorgeschlagen, um an mehr Geld für die Armee zu kommen. Institutionelle Anleger wie Pensionskassen, aber auch Private sollten in die Armee investieren können. Der Bundesrat lehnte dies ab – wegen der Schuldenbremse.

Ich möchte unsere finanziellen Mittel auch lieber anders ausgeben. Das ist wie bei einer Versicherung: Dafür zahlen wir viel, gefühlt häufig zu viel. Aber wenn der Worst Case eintritt, sind wir froh.

Apropos Kosten: Die 36 in den USA bestellten FA-35-Kampfjets kosten bis 1,3 Milliarden mehr als ursprünglich angenommen. Nun steht zur Diskussion, dass man weniger Flugzeuge bestellt.

Der Bundesrat prüft momentan diverse Optionen, das Resultat hierzu will ich abwarten. Was die Mehrkosten anbelangt: Ich möchte an die Abstimmung zur Eisenbahn-Alpentransversale Neat erinnern. Da ging es ursprünglich um zehn bis zwölf Milliarden – am Schluss kostete sie doppelt so viel. Und heute ist sie nicht mehr wegzudenken.

Müsste ein allfälliger Zusatzkredit nochmals vors Volk?

Nein, das war ja bei der Neat auch nicht der Fall. Schon die erste Kampfjet-Abstimmung war nicht notwendig, die hat man freiwillig dem Volk vorgelegt. Wir sollten nicht weiter unnötig Zeit verlieren. Manchmal habe ich den Eindruck, es muss etwas passieren, damit die Leute erwachen.

In Brüssel haben Sie Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die Vorsitzende des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung des Europäischen Parlaments, getroffen. Hat sie die Schweiz gerügt?

Neben der Neutralität war das strenge Kriegsmaterialgesetz ein Thema. Sie äusserte sich sehr freundlich, aber klar, dass dieses Gesetz für alle Staaten ein Problem darstellt. Niemand will bei uns mehr Waffen bestellen, weil man diese nicht weiter exportieren kann. Hier sind wir dabei, diese Fesseln zu lockern. Wir haben die Rüstungsindustrie nicht für unseren eigenen Profit, sondern um im Ernstfall von der Unterstützung unserer Partner zu profitieren.

Riskieren Sie da nicht, dass die Waffen in die falschen Hände kommen?

Es ist klar, dass wir wie nach bisherigem Gesetz keine Staaten beliefern, die Menschenrechte schwerwiegend und systematisch verletzen.

<p>«Ein Zusatzkredit für die US-Kampfjets muss nicht nochmals vors Volk», sagt Gmür vor einem F-5-Tiger-Kampfjet der Patrouille Suisse.</p>

«Ein Zusatzkredit für die US-Kampfjets muss nicht nochmals vors Volk», sagt Gmür vor einem F-5-Tiger-Kampfjet der Patrouille Suisse.

Kurt Reichenbach

Letzte Woche übten Bund und Kantone in einer grossen Krisensimulation, wie sie auf eine Bedrohung reagieren würden. Hat eine solche Übung Sinn, wenn wir ja Ihrer Meinung nach eh nicht gut vorbereitet sind?

Auf jeden Fall. Letztes Jahr gab es etwa eine Übung, bei der ein Kampfflugzeug auf der Autobahn landete. Im Rahmen der neusten Übung hat mich ein Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission angerufen. Sein Computer sei gehackt worden, er sei nur noch per Telefon erreichbar. Da überlegt man sich schon, wie reagiere ich in solchen Momenten? Wen kontaktiere ich wann? Es ist wichtig, den Notfall durchzuspielen.

Sie sitzen seit 2019 in der Sicherheitspolitischen Kommission. Was interessiert Sie am Thema?

Sicherheit bedeutet Freiheit. Das ist für mich eines der bedeutendsten Güter. Gerade bei der jetzigen internationalen Lage ist es für mich die wichtigste Kommission, auch wenn es manchmal harte Kost ist. Wir tragen eine grosse Verantwortung.

Traditionell ist diese Kommission männlich geprägt mit Ständeräten, die im Militär waren. Haben Sie das je gespürt?

Am Anfang hatte ich manchmal den Eindruck: «Du hast kein Militär gemacht, du hast keine Ahnung.» Heute spüre ich davon nichts mehr.

Die Armee hat nicht nur zu wenig Geld, sondern auch zu wenig Personal. Da könnte die «Service Citoyen»-Initiative mit der allgemeinen Dienstpflicht helfen.

Überhaupt nicht. Ich finde es zwar super, wie sich die Jungen für die Initiative engagieren, aber das Anliegen ist nicht durchdacht. Gilt Jungwacht, Pfadi oder der Einsatz als Fussballtrainer von Junioren als Dienst an der Gesellschaft? Und wie lange muss man diesen ausüben, damit er zählt?

Dafür würden Frauen und Männer endlich gleichgestellt!

70'000 Leute würden im Arbeitsprozess fehlen. Dass diese dann in die Armee gehen, bezweifle ich. Frauen leisten heute schon sehr viel ehrenamtliche Arbeit. Dieses ganze System würden wir komplett über den Haufen schmeissen. Und: Eine allgemeine Dienstpflicht ist nicht das Gleiche wie eine allgemeine Wehrpflicht!

Da wären Sie dafür?

Ich könnte mich damit anfreunden, glaube aber, die Zeit ist noch nicht reif dafür. In Israel gibt es die Wehrpflicht für Frauen. Mit positiven Auswirkungen auf deren Karriere. So gibt es nirgends so viele junge Frauen in der Start-up-Szene wie dort.

Würden Sie heute als junge Frau Militärdienst leisten?

Für mich ist der 24. Februar 2022, der Einmarsch Russlands in der Ukraine, ein Gamechanger. Vorher hätte ich mir das nicht vorstellen können. Aber heute würde ich mir das gut überlegen und den Militärdienst auch jeder jungen Frau empfehlen. Nicht nur wegen des Dienstes für das Land, sondern weil sie in Bezug auf Führung, Teamfähigkeit oder Belastbarkeit enorm profitieren kann.

Jessica Pfister
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Interview: Jessica Pfister vor 12 Stunden