Ein kleiner, bunter VW-Bus steht im Regal an der Wand. Ursprünglich ein Sparkässeli, das sich Sohn Nino gewünscht hat, heute aber Deko und Symbol für einen Traum von Kevin Lötscher (35): «Mit meinen Buben nach Hawaii, wenn sie alt genug zum Surfen sind», sinniert er. «Wir zu dritt auf einem Longboard, das wäre cool.» Seine Buben, das sind Jonah (7) und Nino (5) zwei aufgeweckte, neugierige Jungs, die an Hawaii ohne Frage ihren Plausch hätten. Es ist ein schöner Gedanke, ja, aber richtige Pläne schmiedet Lötscher keine mehr.
Das letzte Mal, als er einen Fünfjahresplan hatte, war er 23 Jahre alt, galt als eines der grössten Eishockeytalente in der Schweiz und hatte eben seine erste Elite-WM bestritten. Ein paar Tage später wird der Walliser in seiner Heimat von einer betrunkenen Autofahrerin angefahren, liegt mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Koma, kämpft um sein Leben. Zwar schafft er das Unglaubliche und kehrt aufs Eis zurück, doch er kann mit dem Puck am Stock keine so schnellen Entscheidungen mehr treffen wie davor; es ist ein dauernder Frust. Knapp drei Jahre nach dem Unfall beendet Lötscher seine Karriere. Und fällt daraufhin in eine Depression. Alles, was sein Leben ausgemacht hat, ist weg: «Ich hatte überhaupt keine Lebensfreude mehr.»
Dieser Tiefpunkt ist neun Jahre her. Nun steht er im Garten seines Hauses in Murten FR und spielt Fussball mit seinen Söhnen. Beide spielen im Verein, sind grosse YB-Fans – und das Wichtigste in Lötschers Leben. Heute geht es ihm wieder gut. «Meine Beziehung zu mir ist harmonisch. Das ist das Fundament.» Nur so kann er für andere da sein – und nur so können auch andere von ihm profitieren. Denn das ist heute sein Ziel: mit Referaten und Workshops die Menschen zum Nachdenken anregen, indem er seine Geschichte offen teilt.
Wie er der Unfallfahrerin vergeben hat, wie er akzeptiert und verarbeitet hat, dass ihm sein Lebenstraum Eishockey so jäh genommen wurde. Sorgha heisst seine Firma, der Name entstand während einer Autofahrt mit einem Kollegen, der ihn fragte: Was willst du damit bezwecken, deine Erfahrungen zu teilen? «Ja einfach Sorg ha, verdammt, dass sich die Leute Sorge tragen!», brach es aus Lötscher heraus. Auf sich und andere achten, damit sie nicht an einem so tiefen Punkt landen wie er. Er hat abgeschlossene Ausbildungen als Kaufmann, Ernährungsberater, in psychologischem und mentalem Training im Sport, doch einfach sagen, was andere tun sollen, möchte er nicht. Eher anregen und motivieren.
Kochklub, SUP und Golfgruppe
Der Weg zurück in ein erfülltes und zufriedenes Leben war lange und nicht einfach; auch seine Ehe ist in dieser Zeit zerbrochen. Ohne psychologische Hilfe hätte er es nicht geschafft, aus dieser Wut und dem Schmerz herauszufinden. «Der Schritt musste von mir kommen zu sagen: Ich brauche Hilfe.» Die Nachwirkungen des Schädel-Hirn-Traumas spürt Lötscher noch heute im Alltag, doch hat er gelernt, damit umzugehen. Seine Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit ist vermindert, er wird schnell müde. Sind die Jungs bei ihm, macht er ihnen Zmittag und fährt sie wieder in die Schule. Danach muss er sich zuerst hinlegen – ohne Ablenkung.
Diese Ruhephasen plant er konsequent im Alltag ein, Referate hält er wenn möglich an anderen Tagen. Die Ruhe und Zeit für Selbstreflexion findet er auch in der Natur, etwa auf dem Murtensee, wo er oft mit dem Stand-up-Paddle unterwegs ist. Zudem ist er in einem Kochklub und spielt Golf, wo er vor dem Unfall das starke Handicap 7 hatte. Heute schätzt er es etwa auf 13 ein. Er golft gern mit einem Freundesgrüppchen, bei dem unter anderen der ehemalige NHL-Star Mark Streit, 45, dabei ist. Dessen Frau Fabienne ist übrigens das Gotti von Lötschers Nino.
Auch das Golfen war in den ersten Jahren nach dem Unfall ein Frust für Lötscher, die Koordination nicht mehr dieselbe wie davor. Der Einzige, der seine Herausforderungen im Alltag wirklich verstand, war Daniel Albrecht (40). Mit dem 2009 verunfallten Skiprofi traf er sich einmal im Wallis. Sie redeten über Alltagsdinge, etwa wie sie zu Beginn in Wände liefen, ohne diese vorher wahrgenommen zu haben. Oder dass es sich beim Joggen anfühlte, als habe er Wasser im Schuh. «Mit jemandem zu reden, der sagt: ‹Ich weiss genau, was du meinst!›, hat mir gutgetan. So wusste ich, dass ich keine Schraube locker habe!»
Heute setzt sich Lötscher unter anderem für #WeThe15 ein, eine Bewegung, die ein Bewusstsein dafür schafft, dass 15 Prozent der Weltbevölkerung in irgendeiner Form mit einer Beeinträchtigung lebt. Und das Eishockey? Es fällt ihm mittlerweile leicht, den Sport zu verfolgen, er tut das aber «nicht auf Schritt und Tritt». Ein paarmal pro Saison kommentiert er die Spiele von Fribourg-Gottéron fürs Radio. Fieberte mit Biel im Playoff-Final mit. Und sein Golfgrüppli geht hin und wieder an ein Spiel des SC Bern. Dort kann es dann leicht passieren, dass sie das erste Drittel verpassen, weil sie beim Bier in einer Diskussion hängen bleiben – das wohl beste Zeichen dafür, dass der Schmerz über den Verlust des Hockeylebens passé ist. Und dass Lötscher seinen Frieden damit gemacht hat.