Es ist der 8. Juni 2019, als Silvia, 53, kurz vor einem Auftritt der Geschwister Rymann zu ihrer Schwester Annemarie, 54, sagt: «Du, ich habe heute unsere Jodeluhr nicht angezogen, sie ist mir stehen geblieben.» – «Oh, mir auch, das gibt wohl keinen guten Auftritt», entgegnet diese.
Der Abend und das Konzert der zwei von sechs Kindern von «Schacher Seppli» Ruedi Rymann, †75, verlaufen wunderbar. Was die beiden Schwestern in diesem Moment noch nicht wissen: Mit den «Jodeluhren» steht auch ihre gemeinsame Bühnenzeit still. Zehn Tage später verunglücken Annemarie und ihr Mann Peter Berchtold-Rymann, 58, mit dem Motorrad auf Sardinien tödlich. Das Paar aus Giswil OW hinterlässt zwei erwachsene Kinder. Ihr Tod versetzt das Dorf, die ganze Schweizer Fan- und Volksmusikgemeinschaft in Schock und Trauer.
Heute, vier Monate nach dem Tod der geliebten Schwester und deren Mann, trifft die Schweizer Illustrierte die Geschwister Silvia und Peter Rymann, 45, im Restaurant Bahnhof in Giswil zum ersten Interview.
Silvia Rymann, haben Sie Ihre «Jodeluhr» je wieder getragen?
Ja, sie ist repariert und läuft wieder. Und auch unsere Musik geht weiter. Peter und ich haben entschieden, mit dem Jodeln weiterzumachen. Doch Annemarie ist im Geiste bei jedem Auftritt und bei jeder Probe dabei. Ich spüre sie ganz fest. Ich weiss, sie ist vor, hinter oder neben mir. Nirgends fühle ich mich meiner Schwester näher, als wenn ich juizä.
Wie ist es nach 35 gemeinsamen Jahren auf der Bühne, ohne sie aufzutreten?
Die erste Probe zu zweit mit Peter Ende Juli war einfach nur trostlos. Doch wir hatten Engagements und mussten Antworten auf die Fragen finden: Können wir unser Repertoire im Duo? Kann ich, die zuvor stets die zweite Stimme sang, alleine singen?
Peter Rymann: Wir sassen bei mir am Küchentisch. Dann sagte ich zu Silvia: «Was machen wir heute hier? Hat doch alles keinen Sinn.» Und dann haben wir angefangen … die Musik gibt eben doch viel.
Silvia Rymann: Anderthalb Stunden haben wir musiziert und gesungen. Unsere Herzen wurden auf einmal leichter.
«Wir suchen auch keine neue Karriere, wir hatten eine sehr schöne und unvergessliche Zeit mit Annemarie»
Peter Rymann
Auf dem Tisch liegt ein Foto von Silvia und Peter mit Rita Burch, 42. Die Kontrabass-Musikerin ergänzt neu die Formation. Schnell war klar, dass den Geschwistern Rymann eine dritte Person guttut. «Mit jemand anderem im Duett zu singen, das hätte ich aber vom Herzen her nicht gekonnt», sagt Silvia. «Rita und ihre Bassgeige füllen nun die Bühne bildlich, räumlich, musikalisch und menschlich.» Zudem musizierten schon ihre Väter früher zusammen. «Das verbindet natürlich. Und sie hat auch einen Bruder verloren, einen meiner besten Kollegen», so Peter Rymann.
Wie waren die ersten Reaktionen?
Silvia Rymann: Unterschiedlich. Die meisten Veranstalter engagieren uns weiter, aber wir hatten auch Absagen. Wir akzeptieren das selbstverständlich, wenn sie uns nicht zu zweit oder in der neuen Formation haben möchten.
Peter Rymann: Dass die Engagements nicht zunehmen, ist uns klar. Wir suchen auch keine neue Karriere, wir hatten eine sehr schöne und unvergessliche Zeit mit Annemarie. Aber vor allem tut uns das gemeinsame Musizieren gut.
Silvia Rymann: Wir wollen nicht Traurigkeit vermitteln. Wir möchten wieder frohe Stunden haben und zuversichtlich in die Zukunft schauen.
Peter Rymann: Das ist das Wichtigste am Musikmachen. Annemarie war selber eine solche Frohnatur. Sie hätte nicht gewollt, dass wir aufhören.
Silvia Rymann: Und wenn wir von Annemarie reden, meinen wir auch ihren Mann Peter. Das ist uns sehr wichtig. Dieses Schicksal betrifft zwei Familien. Wir haben zwei Menschen verloren, und unsere Gedanken sind stets auch bei ihren Kindern.
Was gibt Ihnen neben der Musik Trost?
Peter Rymann: Wir haben viele Menschen kennengelernt, die zu uns gekommen sind und von ihrem Schicksal erzählt haben.
Silvia Rymann: Ja, diese Gespräche helfen mir sehr. Viele Leute habens auch nicht einfach und tragen einen schweren Rucksack.
«Wir können Gott sei Dank auch wieder lachen»
Silvia Rymann
Können Sie den Tod gut annehmen?
Peter Rymann: Vielleicht habe ich einen anderen Bezug zum Tod, da ich immer wieder mit ihm konfrontiert wurde. Annemaries Tod ist aber ganz was anderes als der unseres Vaters. Ihre Nummer und die letzten SMS und Fotos, die sie mir geschickt hat, habe ich noch immer im Handy gespeichert.
Silvia Rymann: Das Wort «gut» möchte ich nicht brauchen. Wir schauen vorwärts, ja. Aber wenn man die Situation ganz nüchtern betrachtet, ist es eine Katastrophe und nicht aushaltbar. Die erste Woche dachte ich, jetzt sterbe ich auch. Ich konnte nicht mehr singen, nicht mehr essen, und dennoch gings weiter. Wir können Gott sei Dank auch wieder lachen.
Die Wirtin bringt zwei Chrüter an den Tisch. Den Geschwistern kommt dazu eine Zeile in den Sinn, die sie früher viel zu dritt zueinander sagten: «Wenn das nur giot uisä chunnt!» Sie lachen. Die Erinnerungen an Annemarie und ihren Mann schmerzen, aber gleichzeitig trägt ihr Lachen etwas zur Heilung bei. Silvia Rymann: «Ich habe immer noch viel, aber nicht mehr alles.»