Nicole Reist macht regelmässig die Nacht zum Tag. Ihr Leben dann ist einzigartig. Um 1.30 Uhr morgens läutet daheim in Weisslingen ZH der Wecker. Kurze Zeit später sitzt die 37-Jährige auf dem Sattel in ihrem Trainingsraum im Keller. Die Atmosphäre im Untergeschoss ist düster, ein Heizstrahler wärmt den kühlen Raum. Die Fotos ihrer lachenden Teammitglieder an den Wänden und Musik müssen als Unterhaltung für die dreistündige Radeinheit auf der Rolle reichen. «Ich kann dabei kaum fernsehen oder Filme schauen, das lenkt mich von meinem Vorhaben ab.» Zum Training zählt für sie eben auch der Umgang mit der Eintönigkeit. Um fünf Uhr morgens sitzt die Hochbautechnikerin im Architekturbüro, wo sie Vollzeit arbeitet. Den Sonnenuntergang kriegt sie im Sommer selten mit. Zwischen sieben und halb acht Uhr heisst es: Bettzeit.
Nicole Reist ist die beste Ultravelofahrerin der Welt. Seit mehr als zehn Jahren ist sie ungeschlagen. Kaum eine Handvoll Männer kann global mit der Schweizerin mithalten. Ihre Disziplin ist so unfassbar wie unbekannt: Das Race Across America (RAAM) ist das prestigeträchtigste und längste Ultracyclingrennen überhaupt. Es führt über 5000 Kilometer von der West- an die Ostküste der USA. Reist hat es schon zweimal gewonnen, 2018 mit Streckenrekord von 9 Tagen, 23 Stunden und 57 Minuten. Für Laien besser fassbare Zahlen: Preisgeld null Franken. Schlaf neun Stunden – insgesamt! Denn die Ultrarennen werden nicht in Etappen gefahren, sondern nonstop. Auf dem Trainingsplan stehen darum oft siebenminütige Powernaps. Das Thema beeinflusst gar die Farbwahl ihrer Handschuhe: «Nach Farbenlehre soll Gelb besonders wach machen!»
An ihren letzten trainingsfreien Tag kann sich Nicole Reist nicht erinnern. Und an Feiertagen und Wochenenden sieht ihr Sportpensum jeweils noch extremer aus als sonst: An einem Tag 7'000 Kniebeugen, am folgenden siebenmal mit dem Velo auf die Schwägalp sind durchaus realistisch. Deshalb bleibt auch keine Zeit für Ferien – diese braucht sie für Trainings und die Rennen. Was nach Qual und Drill aussieht, ist für Reist ganz einfach ihre Erfüllung. «Ich liebe die unzähligen Herausforderungen. Und ich glaube, ich bin einfach für diese extremen Distanzen geschaffen.» Sie habe bei all den Stunden im Sattel auch kaum je an offenen Stellen am Po gelitten – ein sonst übliches Problem. Bezeichnet jemand ihr Leben als verrückt, kontert sie: «Verrückt ist für mich, wer faul rumsitzt.»
Demnächst steht Reists grosses Ziel an. Am Race Across America wird die Fahrerin mit dem Spitznamen «Berggeiss» endlich sehen können, ob sich Akribie und jahrelange Vorbereitung gelohnt haben. 2020 wurde das Rennen wegen der Pandemie abgesagt. Und im vergangenen Jahr wurden Reist und ihrem Team als Folge von Corona kurzfristig keine Visa erteilt. «Das war brutal. Eine halbe Tonne Material war sorgfältig verpackt in meiner Wohnung bereit.» Die Logistik macht das Abenteuer auch diesmal schwierig und reizvoll zugleich. Vor Ort wird Reist von einem Team aus Autofahrern, Mechanikern, Betreuerinnen und Medizinfachleuten unterstützt.
Mit dabei auch ihr «Lösungsbuch». Darin sind Erfahrungen und Learnings aus vergangenen Rennen notiert. «Dass ich unterwegs zur Ablenkung keine Geografiefragen gestellt, sondern News aus aller Welt vorgelesen haben möchte.» In welchen Momenten sie Schlager oder Heavy Metal antreibt. Oder eine Liste von giftigen Tieren, die ihr über den Weg laufen könnten. Nicole Reists Ziel am RAAM: neue Rekorde aufstellen. Die angestrebte Zeit bleibt jedoch geheim. Denn sie hängt auch von Faktoren ab, die Reist nicht beeinflussen kann – wie Wetter, Rotlichter oder geschlossene Eisenbahnschranken. Am 14. Juni fällt der Startschuss. Dann kommt die Zeit, für die sie in ihrem Leben so oft die Nacht zum Tag macht.