Mai 2024. «Wie viel Talent passt in einen Menschen?», fragt die deutsche «Zeit». «Nemo hat Europa erobert», sagt die spanische «El Mundo». Und die britische «Daily Mail» vergleicht Nemo mit Legende Freddie Mercury. Nemo Mettler: 591 Punkte. Alles richtig gemacht. Und zwar von Anfang an.
Juni 2001. «Problem: Das Kind schreit. Problemanalyse: Das Kind will die Salami nicht essen. Problemlösung: Salami selber essen, dem Kind Schoggi geben.» So beginnt ein Porträt über Markus Mettler (heute 57) und Nadja Schnetzler (heute 52) und ihre Denkfabrik Brainstore in der Schweizer Illustrierten. Das Kind, Nemo, ist zwei Jahre alt und «kann ziemlich viel Radau machen», sagt Mama Nadja. Und ist nicht nur an einem Küchentisch, an dem es Schoggi statt Znacht gibt, goldrichtig, sondern auch in einem Elternhaus, das Talent und Kreativität bedingungslos fördert. «Ich weiss nicht, ob man lernen kann, kreativ zu sein», sagt Nadja Schnetzler später in einem SRF-Interview. «Aber man kann den Raum dafür bekommen, um das, was da ist, entfalten zu können.»
Februar 2013. «Wenn Nemo Mettler loslegt, sind die Zuschauer schnell wieder hellwach.» Die Zeilen der «Berner Zeitung» sind ein grösseres Kompliment an Nemo als an das Udo-Jürgens-Musical «Ich war noch niemals in New York», in dem der Teenager auf der Bühne steht. Seit geraumer Zeit singt das Talent in der Bieler Kinderoper. Nemo spielt Geige, Klavier und Schlagzeug – Timing ist alles! – und sagt: «Ich stehe gern im Mittelpunkt. In der Schule bin ich der, der am meisten aufstreckt. Ich will am meisten sagen.» Das Ziel: der Broadway in Nemos Lieblingsstadt New York. Dass Vater Markus und die zwei Jahre jüngere Schwester Ella gerade dort leben und Nemo ausgerechnet wegen des «Ich war noch niemals in New York»-Engagements nicht mitkonnte, klingt nach einer Ironie des Schicksals. Aber genau diese erste Bühnenerfahrung führt mitunter zu all dem, was folgt.
März 2015. «Nemo Mettlers Lockerheit und die cleveren Strophen las- sen ihn wie einen Profi aussehen», schreibt das «Bieler Tagblatt» zu Nemos Auftritt bei der SRF-Castingshow «Die grössten Schweizer Talente». Zwei Jahre zuvor hat Nemo begonnen, Texte zu schreiben und zu rappen. Für die nächste «DGST»-Runde reichts nicht. Im Sommer beginnt Nemo eine Kochlehre, die er aber schnell abbricht.
Februar 2016. Der «Bund» beschreibt die Begegnung mit dem Teenie wie folgt: «Nemo Mettler macht einen unscheinbaren Eindruck. Er trägt Kopfhörer um den Hals, Longboard unter dem Arm und Spange im Mund. Doch der Schein trügt. Im Gegensatz zu anderen 16-Jährigen gibt es einen Interviewtermin mit ihm nur über seinen Manager. Den brauche er eigentlich nicht, sagt Nemo. «Aber es ist gut, jemanden zu haben, der mir Ratschläge gibt. Zum Beispiel im Umgang mit Medien.» Nemos Auftritt beim SRF-«Bounce Cypher» hat das Interesse von Musikfans und Medien geweckt. Die einstigen Broadway-Träume bezeichnet Nemo nun als «naiv», ist sich aber auch bewusst: «Ich habe nichts Grosses zu erzählen, habe keine Schicksalsschläge einstecken müssen und bin nicht im Ghetto aufgewachsen.» Der «Bund» bescheinigt dem Rap-Talent Wortgewandtheit, Musikalität – und hohe Treffsicherheit im Tim
Februar 2018. In den letzten zwei Jahren hat sich Nemo mit Mundart-Hip-Hop in die Herzen der Fans und in die Hitparade gesungen. Bei den Swiss Music Awards räumt Nemo vier Trophäen ab – das gabs noch nie. Nur das Pop- und Jazz-Studium an der Zürcher Hochschule der Künste lässt sich schlecht mit der Musikkarriere vereinbaren, wird deshalb abgebrochen.
Dezember 2018. Die Musikkarriere lässt sich schlecht mit Nemos Kreativität vereinbaren und wird deshalb unterbrochen. «Wenn man ständig Output liefert, kommt das kreative Auftanken zu kurz. Ich will mir mehr Zeit nehmen zum Schreiben und Musikmachen», sagt Nemo zu «20 Minuten». Den Takt hie und da verlangsamen gehört ebenfalls zum richtigen Timing.
November 2021. Nemo taucht kurz auf – im Pandakostüm bei der TV-Show «The Masked Singer». Der Bär erreicht den fünften Rang, Nemo sorgt dafür, nicht ganz in Vergessenheit zu gera- ten – und taucht wieder ab.
März 2022. Nemo zieht es nach Los Angeles. «Ich arbeite an meiner EP. Zudem habe ich amerikanische Wurzeln. Ich muss unbedingt das Haus besuchen, wo mein Grosi aufgewachsen ist», erzählt Nemo vor der Abreise SI online. Und tönt bereits da Probleme mit der binären Gesellschaft an: «Dass biologische Unterschiede existieren, stellt niemand infrage. Aber wieso sind wir so fest darauf getrimmt: Du hast einen männlichen Körper, du bist ein Mann. Wieso spielt es eine Rolle?»
2023. 3+ gibt den Cast für die fünfte Staffel von «Sing meinen Song» bekannt: Neben dem neuen Gastgeber Dodo sitzen Marc Sway, Eliane, Marius Bear, Vincent Gross, Cachita – und Nemo auf der berühmten Couch in Gran Canaria. Dass sich Nemo für das Comeback in der Schweizer Öffentlichkeit die musikalische Überflieger-Show schlechthin ausgesucht hat, ist kein Zufall. Denn Nemo hat – wie schon damals in der Primarschule – viel zu erzählen.
November 2023. Die Bombe lässt Nemo in der «SonntagsZeitung» platzen: «Ich fühle mich weder als Mann noch als Frau.» Nemo ist nonbinär, möchte nicht mehr mit dem Pronomen «er» genannt werden. «Ich habe grosses Glück mit den Menschen in meinem Umfeld. Sie haben es super liebevoll aufgenommen, als ich davon erzählt habe.» Das gilt in erster Linie auch für Nemos langjährige Partnerin. Geändert habe sich in der Beziehung zu ihr nichts – zumal es bei Nonbinarität um Identität und nicht um sexuelle Orientierung geht: «Unsere Beziehung ist nicht auf Rollenbilder aufgebaut. Wir haben keine Erwartungen aneinander, die an das Geschlecht geknüpft sind.» Nemo lebt inzwischen in Berlin, wo es für nonbinäre Personen einfacher sei als hierzulande: «In der Schweiz sagen mir ständig Leute, wer ich bin.»
29. Februar 2024. Das SRF verkündet: Nemo nimmt für die Schweiz am Eurovision Song Contest teil. «Das Ziel ist, meinen Beitrag authentisch auf die Bühne zu bringen und für diejenigen einzustehen, die nicht immer diese Repräsentation haben. Damit die Leute merken, dass es okay ist, so zu sein, wie man ist», so Nemo zum «Blick».
13. März 2024: in der zweiten Folge von «Sing meinen Song» rührt Marc Sways Version von Nemos «Du» zu Tränen. «Ich habe mich gefragt: Was ist, wenn ich alles verliere? Aber einfach die Menschen um mich herum das sind, was bleibt?», erklärt Nemo den Song. Die vielleicht etwas unfassbare Nonbinarität weicht einer Emotionalität, mit der sich alle identifizieren können – erneut zum genau richtigen Zeitpunkt.
30. März 2024: Nemos Eurovisions-Beitrag «The Code» wird bei den traditionellen Wettquoten im Vorfeld auf Platz 1 gehandelt! «Eine unglaublich schöne Motivation. Aber ich versuche, den Fokus auf den Dingen zu behalten, die ich kontrollieren kann», sagt Nemo zu nau.ch.
18. April 2024. Die schwedische Botschaft in Bern richtet vor Nemos Abreise nach Malmö einen Empfang aus. Bei Nemo steigt die Nervosität. «Manchmal kommen einfach viele Dinge im Leben zum richtigen Zeitpunkt zusammen, und alles macht Sinn», sagt er zur Schweizer Illustrierten. Damit die Nervosität in den Tagen vor dem ESC nicht überhandnimmt, entschliesst sich Nemo zu einer speziellen «Beschäftigungstherapie»: Gemeinsam mit Kumpel Imre reist unsere ESC-Vertretung per Autostopp nach Malmö, wo die SI mit Nemo Tage später typisch schwedische Holzschuhe shoppen geht. «Wenns reicht, bin ich mega happy – auch wenn ich mir wohl gar nicht vorstellen kann, was dann auf mich zukommt», meint Nemo über einen möglichen Sieg.
11. Mai 2024. Europa findet Nemo! Eine wortwörtliche Punktlandung. 591 Punkte sichern Nemo den Sieg. Der Rest ist bereits Geschichte: Nemo erhält von Vorjahressiegerin Loreen den Pokal, lässt ihn fallen, verletzt sich am Daumen, stammelt in unzählige Mikrofone, wie unglaublich alles ist, und macht Party bis zum Morgengrauen.
12. Mai 2024. Um 22.30 Uhr landet Nemo in Zürich und wird frenetisch gefeiert – allen voran von der Community der LGBTIQ+, die in Nemo eine Identifikationsfigur sieht. Dass der ESC-Star sich auch auf politischer Ebene für deren Rechte starkmachen will, hat er bereits angekündigt. Mitten in der Nacht gibts eine Pressekonferenz, dann will Nemo nur noch eins: nach Hause, nach Biel, zu Eltern und Schwester. Dahin, wos Schoggi gibt statt Salami.
Und was sagt Nemos untrügliches Gespür fürs richtige Timing jetzt? Erst einmal verschwinden. Die Hunderten von Medien aus aller Welt, die um Interviews anfragen, bekommen alle die gleiche Antwort, in unterschiedlichen Sprachen: «Nemo gibt vorerst keine weiteren Interviews. Nemo konzentriert sich auf den kreativen Prozess und die kommenden Liveshows.»
Was dabei herauskommen kann, wenn Nemo sich auf die Kreativität konzentriert, beschreibt die «Daily Mail» als «Mischung aus James-Bond-Hymne und Opernarie» – und führt eben dazu, dass die «Zeit» fragt, wie viel Talent in einen Menschen passt. Die Antwort: manchmal so viel, dass es fast nicht auszuhalten ist. Am wenigsten wohl für den Menschen selbst. Aber wenn Nemo Mettler diesen Weg weitergehen will, könnte ganz Grosses dabei herauskommen. Die letzte Musikerin, die den Eurovision Song Contest in die Schweiz holte, Céline Dion (56), ist heute ein Weltstar.