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Pipilotti Rist

Schön schräg

In Venedig feierte Pipilotti Rist am Samstag Weltpremiere ihres ersten Spielfilms «Pepperminta». Im Alltag ist die Star-Künstlerin oft überraschend normal: «verschroben, altmodisch und unabhängig».

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Sie erobert gerade die grosse Welt. Doch für sich selbst liebt sie es klein, familiär. Deswegen hat Pipilotti Rist auch keinen Manager, Agenten, Pressechef. Wenns drauf ankommt, springt ihre Mutter ein. Und die steht am vergangenen Freitag in Helsinki im Museum, während ihre Tochter in Venedig im Hotel Excelsior Interviews gibt. In Helsinki wird an diesem Tag eine Ausstellung von Pipilotti eröffnet. Zum ersten Mal in 20 Jahren Künstler-Karriere ist sie bei einer Vernissage nicht dabei, weil sie bei den Filmfestspielen die Weltpremiere ihres Kinofilms feiert.

«Ist sie nicht rührend?», fragt Rist und schwenkt ihr iPhone, das sie – damit es nicht so spiessig-elegant aussieht – mit orangen Klebestreifen verziert hat. Auf dem Handyfoto steht die Mutter am Mikrofon; die Eröffnungsrede hat sie auf Finnisch einstudiert.

Das Hotel Excelsior, ein Backstein-Kasten mit Türmchen, Erkerchen, Privatstrand, ist während der Festivaltage das Mekka aller Schauspieler, Filmproduzenten, Journalisten. Rist wurde hier einquartiert, 890 Euro das Zimmerchen, Frühstück inklusive. Zusammen mit Balz Roth, den die Künstlerin gerne «meinen Liebhaber» nennt. Und weil die Geschichte um diesen Liebhaber so schön ist, soll Pipilotti Rist sie an dieser Stelle schnell erzählen: «Ich habe mal eine Liste gemacht mit allen Leuten, die ich geküsst habe. Das sind 33. Davon ist die Hälfte Musiker, die andere Hälfte hat eine super Musiksammlung. Balz hatte die beste, und da habe ich mit ihm ein Kind gemacht.»

Sohn Himalaya Yuji ist acht Jahre alt. Meist ist er bei den Kunstanlässen dabei. Diesmal blieb er bei Freunden in Zürich, telefoniert mit den Eltern per Skype. Roth lässt den Blick durch die Hotellobby schweifen, vorbei an Frauen auf High Heels in Miniröcken. Sagt: «Pipilotti ist aufgeregt. Die Filmpremiere ist seit ihrer Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art der grösste Erfolg ihrer Karriere.»

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Rist, in rosa Hosen, rosa Kaftan, roten Zehensandalen sagt: «Meine grösste Angst ist, etwas abzuliefern, das mittelmässig ist und für niemanden ausser mich selbst eine Bedeutung hat.» Zuletzt hat sie 2005 in der Lagunenstadt für Aufsehen gesorgt.

Anlässlich der Kunstbiennale vertrat sie die Schweiz und provozierte mit einer erotischen Licht-Ton-Installation in der Kirche San Stae. Damals legte sich selbst Bundesrat Pascal Couchepin rücklings auf eines der grossen Sofas und schaute entzückt den Film – bevor der Bischof nach vier Monaten das für ihn frivole Werk verdammte, die Kirche für Besucher sperrte.

Zehn Jahre Arbeit und 3,7 Millionen Franken hat «Pepperminta» gekostet. Hauptdarstellerin ist die Tänzerin Ewelina Guzik – Pipilottis Muse und Schauspielerin in vielen Videos. In dem modernen Märchen rettet die junge Frau mit zwei Gefährten die Welt. Wie auch in ihren Videos arbeitet sie mit grellen Farben, Nahaufnahmen von Gesicht, Füssen, Händen. Zeigt riesengrosse Früchte, minikleine Tiere. «Durch meine Arbeit sollen die Menschen die Welt mit anderen Augen sehen», sagt Rist.

Wer Elisabeth Charlotte Rist verstehen möchte, muss Venedig, New York, Helsinki hinter sich lassen und in die Ostschweiz fahren. Buchs SG. Weit ist das Tal, saftig und grün. Sanft schlängelt sich der Rhein in seinem Bett. Morgens um sechs Uhr schlägt die Kirchglocke in ihrem Heimatdorf fünf Minuten. «Das ist brrrrutalo!», sagt Pipilotti Rist im weichen Dialekt des St. Galler Rheintals, «aber wenn ich das höre, fühle ich mich daheim.» Sie sitzt vor einer Steinmauer im Schatten, türmt auf eine Reiswaffel Mayonnaise und ein Stück Pferde-Trockenfleisch vom Dorfmetzger. «Heimat ist», sagt Rist, «wo sich die eigene Seele der Natur angleicht.»

Wie ist also Pipilotti Rist? «Eine abgeschottete Gegend. Etwas verschroben, altmodisch. Aber Unabhängig. Sehr offen. Ich bin immer nach Vorarlberg in Österreich zum Tanzen gefahren. Die hatten als Erste die neuen Musikplatten aus London und New York.»

«Meine grösste Angst ist: etwas Mittelmässiges abzuliefern»

Im Schloss Werdenberg oberhalb von Buchs ist es kühl an diesem heissen August-Tag. Es riecht nach nassem Teppich und staubiger Luft. Rist hat ihre Reiswaffeln genossen und steigt langsam die Steinstufen hoch. Als Kind spielte sie hier Prinzessin. Jetzt ist sie mit der kleinen Ausstellung «Mama nomol» zurück, ein Geschenk an ihre Heimat.

In den ehemaligen Gemächern der letzten Gräfin hat Rist eine ihrer Installationen aufgebaut. «Ich wollte schon als Teenager Räume mit bewegten Farben, Licht und Musik einrichten», sagt sie, «damals wusste ich nicht, dass das Kunst ist. Eigentlich mache ich Filme wie die Leute beim Fernsehen. Nur dass ich viel mehr Freiheiten habe.»

Sie setzt sich ins Halbdunkel eines Schlafzimmers. Holzdielen knarren. Unter der Decke, auf einer Eisenkonstruktion, die ihr ein Onkel aus dem Dorf geschweisst hat, hängt die Videoanlage. Sie projiziert Filme auf die weissen Matratzen. Gerade tanzt Sohn Yuji mit zwei Cousins in einer Filmsequenz durchs Bett. Im Nachbarzimmer huschen riesige Ohren, Hände, Münder über die Wand.

Kleine Installationen, 14 Tage täglich acht Stunden Arbeit. Mit zwei Mitarbeitern verlegt sie 100 Meter Kabel, installiert Steckdosen. Klebt alle Fenster mit bunter Folie ab. Stimmt Bilder und Ton aufeinander ab. Wenn sie sich bei der Arbeit konzentriert, streckt sie meist die Zungenspitze raus, murmelt ab und zu ein «Jo», in Pipilotti-Deutsch ein nachdenkliches «Ja». «Ich bin ein Arbeitstier, perfektionistisch und genau. Meine Arbeiten entstehen mit Blut und Schweiss.»

Zürich, Kreis 5. Atelier Rist. 150 Quadratmeter für Pipilotti und vier Mitarbeiter: zwei Assistentinnen, ein Architekt, ein Videospezialist. Das Team ist die erweiterte Familie neben Mann und Kind. Hier werden die Filme bearbeitet und geschnitten. Die grossen Ausstellungen am Modell geplant. Neue Bild- und Drucktechniken entwickelt.

«Heimat ist, wo sich die eigene Seele der Natur angleicht»

Schmal und müde, die blonde Mähne zur Haartolle aufgetürmt, steht Rist vor einem Vorhang aus runden Spiegelchen, tausendmal Pipi, und kratzt sich im ausrasierten Nacken. Endspurt vor den Premieren in Helsinki und Venedig. In der zusammengezimmerten Küche volle Regale mit Gemüse, Obst, Nudeln. Einer kocht, alle essen zusammen. Was übrig bleibt, landet oft an der Pinnwand: vertrocknete Schaumwaffeln, Mohrenkopfpapiere, Silberfolien. Eine Villa Kunterbunt, mit Briefkasten für Hass- und Fanpost.

Geht ihr der ewige Pippi-Langstrumpf-Vergleich auf die Nerven? «Nein, ich habe mich ja nach ihr so genannt», sagt sie. «Pippi rebelliert gegen die angepasste Welt der Erwachsenen. Sie ist stark, unabhängig, frei. Das bin ich nicht. Aber der Gedanke gefällt mir, und so ist sie ein Vorbild für mich.»

Rist sinkt in einen weissen Thronsessel, lehnt den Kopf zurück, schliesst die Augen, summt Melodien. Sie muss die Namen für ihre Filmmusik erfinden, komponiert von Roland Widmer und Anders Guggisberg. Auch hier noch ein Stück Familie: Rist ist Gotte von «Frischling Josefa», wie sie das Baby von Guggisberg nennt. In den nächsten zwei Stunden sitzt sie so, hämmert ab und zu einen Titel in ihre bunte Tastatur: «Saftgrün», «Regenwurmrosa», «Zwetschgenblau».

«Was meinst du, Rachele?», fragt sie ihre Assistentin. Knetet die Finger. Rachele liest, Zeile für Zeile, je ein Wort, bis Nr. 11, blickt auf, lächelt. «Jo!», sagt Rist, und das klingt auf einmal gar nicht mehr müde. «Ich bin nicht eitel. Mir wäre am liebsten wenn die Leute am Ende nur noch meine Kunst geniessen. Und den Künstler dahinter vergessen.» Das klingt kokett, aber man glaubt ihr diese Bescheidenheit sofort.

Zurück in der Lobby des Hotels Excelsior. Immer mehr Frauen in High Heels und Miniröcken stöckeln Richtung Bar. Am Strand treibt der Abendwind Sand vor sich her. Pipilotti hat ihre Sandalen ausgezogen, platscht durch die flachen Wellen, der Blick klebt am Horizont. Schon Ende September wird sie nach São Paulo, Brasilien, fliegen und die nächsten Ausstellungen vorbereiten. Ihr Team ist dabei. Auch der «Liebhaber» und Yuji. Pipilottis Leben bleibt eine grosse kleine Welt.

am 5. September 2009 - 20:20 Uhr, aktualisiert 20. Januar 2019 - 18:43 Uhr