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Der ganz normale Wahnsinn

An die Frau, die meine Tochter einmal sein wird

Vor fünfzig Jahren durften Schweizer Frauen erstmals national an die Urne schreiten. Seither hat sich viel getan in Sachen Frauenrechte. Gleichstellung ist allerdings in unserem Land noch in weiter Ferne. Unsere Familienbloggerin richtet sich mit einem Brief an die Frau, die ihre Tochter einmal sein wird.

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Sandra Casalini, bei sich zu Hause in Thalwil, am 04.12.2018, Foto Lucian Hunziker

Der wichtigste Rat unserer Familienbloggerin an das erwachsene Ich ihrer Teenager-Tochter: «Sei besser zu dir selbst, als ich es war.»

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Mein liebes Mädchen - das du nun nicht mehr bist, aber für mich immer sein wirst. Nun bist du also erwachsen. Und vielleicht merkst du langsam, dass unsere Welt - anders, als du das als Teenager dachtets - noch ziemlich weit weg davon ist, gleichberechtigt zu sein. Vermutlich machst du immer wieder mal die eine oder andere Erfahrung wegen der schlichten Tatsache, dass du eine Frau bist. Vielleicht musstest du dir schon Dinge anhören, die man einem Mann nie gesagt hätte - und zwar nicht nur von Männern, sondern auch von anderen Frauen.

Wir sind schon weit gekommen

Vielleicht hast du schon gemerkt, dass man gegen die Vorurteile in den Köpfen der Leute zuweilen noch schlechter ankommt als gegen männliche Netzwerke, gegen die man als Frau je nachdem chancenlos ist. Egal wie hart man arbeitet und wie gut man ist. Und vielleicht hast du sogar schon einen Lohn akzeptiert, obwohl du wusstest, dass dein männlicher Kollege für den gleichen Job mehr verdient.

«Noch gravierender finde ich rückblickend, dass du zwar mit einer Mutter aufgewachsen bist, die immer gearbeitet hat. Du bist aber auch mit einer Mutter aufgewachsen, die jahrelang fast an ihren Schuldgefühlen erstickt ist.»

Dabei sind wir schon einen weiten Weg gekommen. Stell dir vor, als dein Grosi volljährig wurde, durfte sie noch nicht einmal abstimmen. Als dein Mami - also ich - geboren wurde, war Vergewaltigung in der Ehe kein Strafbestand. Als du zur Welt kamst, gab es noch keinen staatlich finanzierten Mutterschaftsurlaub. Dass ich mich trotzdem in den ersten vier Monaten deines Lebens ausschliesslich dir widmen durfte, war reiner Goodwill meines Arbeitgebers.

Der ständige Vorwurf, alles zu wollen

Du bist in einer Art «Zwischengeneration» aufgewachsen. Du hast zwar zu Hause gesehen, dass Geldverdienen nicht nur Männersache und Haushalt und Kindererziehung nicht nur Frauensache sind. Selbstverständlich war das aber noch lange nicht. Wenn in Kindergarten oder Schule irgendetwas war, wurde ohne zu überlegen die Mutter angerufen.

Wenn du dir in der Badi den Zeh angeschlagen hast, hat man dich sofort gefragt, wo denn dein Mami sei. Und wenn euer Papi mit dir und deinem Bruder auf dem Spielplatz war, war er meist der einzige Mann. Noch gravierender finde ich rückblickend aber, dass du zwar mit einer Mutter aufgewachsen bist, die immer gearbeitet hat. Du bist aber auch mit einer Mutter aufgewachsen, die jahrelang fast an ihren Schuldgefühlen erstickt ist.

«Ich wollte besser sein als alle anderen. Sowohl im Job als auch als Mutter. Dass ich daran so oft gescheitert bin, dass man es gar nicht mehr zählen kann, versteht sich von selbst.»

Weil ich mich ständig mit dem Vorwurf konfrontiert sah, ich würde alles wollen, und das gehe als Frau nun mal nicht, wollte ich erst recht alles. Und vor allem wollte ich es besser. Ich wollte besser sein als alle anderen. Sowohl im Job als auch als Mutter. Dass ich daran so oft gescheitert bin, dass man es gar nicht mehr zählen kann, versteht sich von selbst, aus heutiger Sicht. 

Wir müssen uns selbst wertschätzen

Ich weiss, die Ratschläge der eigenen Eltern sind immer irgendwie blöd. Schliesslich muss man seine eigenen Erfahrungen machen. Aber wenn ich dir einen einzigen geben darf: Sei besser als ich. Nicht im Job, oder als Mutter oder als Frau. Sei besser zu dir selbst. Sei besser darin, du selbst zu sein. Denn erst dann, wenn wir - gerade wir Frauen! - uns in unseren eigenen Köpfen wertschätzen, werden es auch die anderen tun.

Mehr von Familien-Bloggerin Sandra C. lest ihr hier.

 

Familienbloggerin Sandra C.
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Von Sandra Casalini am 6. Februar 2021 - 08:09 Uhr