Aufgewühlt und verärgert betritt eine Frau die Chocolaterie und setzt sich an den Tresen. Die Inhaberin bereitet ihr eine heisse Schokolade mit Chilischoten zu. Auf die ungewohnte Kombination reagiert die Frau zunächst mit einem abschätzigen Schmunzeln. Doch als sie einen Schluck probiert, wandelt sich ihre anfängliche Skepsis in genussvolle Überraschung.
Diese Szene stammt aus dem Film «Chocolat – ein kleiner Biss genügt». Darin spielt Juliette Binoche eine Mutter, die mit ihrer Tochter in ein Kaff zieht und dort in der Fastenzeit eine Chocolaterie eröffnet. Ihre liebevoll zubereiteten Kreationen spenden den Menschen Trost und Genuss. Doch was bedeutet das eigentlich: Genuss? Und warum fällt es uns oft so schwer, ihn zuzulassen?
Vielleicht denken Sie bei Genuss an eine Zimtschnecke, die Sie sich zum Zvieri gönnen, oder an ein warmes Bad zur Entspannung nach einem hektischen Tag. Der Duden definiert Genuss als «etwas, das Freude, Wohlbehagen oder tiefe Befriedigung bereitet». Genuss ist per definitionem also nicht nur gutes Essen, sondern alles, was wir mit unseren Sinnen bewusst erleben – sei es Musik, ein Buch, ein Gespräch, Sport, Gesellschaft.
Zwischen Verzicht oder Exzess
In einer Zeit, in der Selbstoptimierung zum Lifestyle geworden ist, Stress als Volkskrankheit gilt und Ernährung streng nach Apps und Kalorientabellen geregelt wird, gilt Genuss häufig als Extra, als Belohnung. Es scheint – insbesondere was das Essen angeht – als sei nur eines der beiden Extreme möglich: Entweder man verzichtet, zügelt sich, oder man übertreibt und wird vom schlechten Gewissen geplagt. Gerade in der Adventszeit fällt es vielen schwer, die Balance zu finden.
Marlies Gruber, Ernährungswissenschaftlerin aus Österreich, Geschäftsführerin des «Forums Ernährung heute» und Autorin des Buches «Mut zum Genuss», sagt: «Essen zu geniessen, erfordert Mut, denn kaum ein Thema wird heute so stark polarisiert und mit Ängsten aufgeladen.» Die Einteilung von Lebensmitteln in «gesund» und «ungesund» oder «gut» und «böse» vermittle in einer komplexen Welt zwar ein Gefühl von Kontrolle, greife aber zu kurz. Denn kein Lebensmittel sei per se schlecht, es hänge immer von der Menge ab. Ungesund sei der verkrampfte, gar zwanghafte Zugang zum Essen. «Wenn Ernährung nur noch als reine Nährstoffaufnahme verstanden wird und das Schöne, Sinnliche und Emotionale dabei verloren geht, verlieren wir auch das Gespür dafür, was uns wirklich guttut.»
Unterwegs einen Kaffee trinken oder zwischen zwei Terminen ein Sandwich essen: Viele unserer Mahlzeiten finden on the go statt. «Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass wir schnell etwas nebenbei essen und gleichzeitig Genuss erleben können», sagt Gruber. «Wie wir essen, sagt viel darüber aus, wie wir uns selbst wertschätzen.» Genussvoll bedeute, sich bewusst Zeit zu nehmen. Laut der Expertin zeigen Studien, dass genussaffine Menschen, die sich ohne Ablenkung und ohne schlechtes Gewissen einem Glas Rotwein oder einem Stück Schokolade hingeben können, abwechslungsreicher und ausgewogener essen, ihre Gesundheit besser einschätzen und optimistischer und leistungsfähiger sind.
Die volle Aufmerksamkeit, bitte
Darüber hinaus wirkt Genuss als Stresspuffer. «Wenn wir geniessen, fördert unser Gehirn die Ausschüttung von Gamma-Aminobuttersäure, dem wichtigsten hemmenden Neurotransmitter mit beruhigender und angstlösender Wirkung.» Allerdings entfalte Genuss nur dann seine entspannende Wirkung, wenn wir ihm unsere volle Aufmerksamkeit schenken. Ein Stück Schokolade zu essen, während man durch den Newsfeed scrollt oder E-Mails checkt, wird vom Gehirn nicht als echtes Genusserlebnis registriert. Folglich bleibt der positive Effekt aus. Wichtig sei auch die Abgrenzung zu Lust, sagt Gruber. «Mit Lust zu essen, bedeutet, den Appetit zu stillen und impulsiv zuzugreifen. Genuss hingegen entsteht durch gewolltes und achtsames Wahrnehmen.»
Was Achtsamkeit betrifft, können wir vielleicht etwas von der japanischen Teezeremonie lernen, die auf jahrhundertealten Zen-buddhistischen Prinzipien beruht und mehr ist, als nur Tee trinken. Der Genuss entsteht dabei durch die Reduktion auf das Wesentliche. Es geht darum, bei jedem Schluck achtsam den Geruch, den Geschmack, die Wärme und die Konsistenz wahrzunehmen. Wie duftet der Tee und wie fühlt sich die Oberfläche der Teeschale an? Alles wird im Hier und Jetzt erlebt. Keine Ablenkung, kein Multitasking.
Durch das bewusste Wahrnehmen schule man seinen «kritischen Gaumen», sagt Gruber. Also die Fähigkeit, Geschmack aktiv wahrzunehmen. So entstehe nach und nach eine persönliche Geschmackserfahrung, die helfe einzuschätzen, was einem wirklich guttue und was man als Genuss empfinde. Denn was für den einen purer Genuss ist, kann für den anderen völlig uninteressant sein. «Wer sich wirklich Zeit nimmt und einem Tee oder einem Stück Käse für ein paar Minuten alle Sinne widmet, braucht gar nicht viel davon.» Die Intensität des Erlebens ersetze die Menge, weil man so sehr mit Schmecken und Wahrnehmen beschäftigt sei. «Genuss sollte keine Belohnung für besondere Tage sein, sondern ein fester Bestandteil unseres Alltags.»
Es ist nicht der Dezember …
In der Weihnachtszeit, in der uns ständig und überall Verlockungen begegnen, passiert es schnell, dass man gelegentlich über die Stränge schlägt. Die Expertin beruhigt: «Die wesentliche Gewichtszunahme findet nicht zwischen Dezember und Januar statt, sondern verteilt sich über die restlichen Monate.» Deshalb sei es wichtig, diese Zeit nicht als «böse Ausnahme» zu sehen, sondern die Erlebnisse positiv wahrzunehmen. Die meisten Zusammenkünfte sind hoffentlich schön und dürfen genossen werden. «Sollte es doch mal etwas mehr Fondue Chinoise oder Filet im Teig werden, helfen Spaziergänge, kleine Atempausen und vor allem, sich täglich ein paar Minuten für sich selbst zu nehmen.» So gelingt es, entspannter und gelassener durch die Festtage zu gehen.
