Unsere Umfrage aus früheren Artikeln zum Thema Homeschooling hat gezeigt: Offensichtlich sind viele Eltern während des Corona-Lockdowns auf den Geschmack gekommen, als sie ihre Kinder beim Fernunterricht zu Hause unterstützt haben. Zeitweise über die Hälfte der Abstimmenden geben zu, zumindest insgeheim davon zu träumen, ihre Kinder am liebsten längerfristig daheim unterrichten zu wollen:
Auch beim Verein Bildung zu Hause Schweiz haben die Anfragen zugenommen. Ob es beim Liebäugeln und Träumen bleibt, oder ob in Zukunft tatsächlich mehr Eltern den Schritt zum Homeschooling wagen, wird sich erst zeigen. Wir haben mit einer Familie gesprochen, die den Mut hatte – und den Schritt nie bereute.
Sandra Bolliger-Kunz aus Aarau ist Mutter von zwei Zwillingspaaren: dem 15-jährigen Noé und seiner Schwester Malin sowie den beiden Mädchen Nisha und Amani, 11. Die Mutter kam auf die Idee des Homeschoolings, weil es für sie mühsam war, als die älteren beiden in den – damals noch freiwilligen – Kindergarten kamen. «Am Morgen mussten wir jufeln, um mit vier Kindern rechtzeitig aus dem Haus zu kommen, und bis die grossen vom Kindergarten heimkamen, hatten die kleinen schon seit einer halben Stunde Kohldampf», erzählt Sandra Bolliger. «Zudem wurde mir bewusst, wie schnell es gehen würde, bis die Kinder viel Zeit ausser Haus wären. Manche Eltern sind vielleicht froh um einen bezahlten Kinderhort, für mich und meinen Mann hingegen war klar: Wenn wir eine Familie gründen, werde ich daheim sein mit den Kindern.»
Nebst den organisatorischen Widrigkeiten hätten sie auch aus erzieherischer Sicht im Kindergarten suboptimale Erfahrungen gemacht, wie Sandra Bolliger erzählt: «Etwa im Umgang der Lehrpersonen mit schwierigen Mitschülern. Ich spürte, ich müsste viel von meinen Werten abgeben, wenn die Kinder so viel ausser Haus betreut würden.»
«Anfangs wollte ich bloss die Kleinkindzeit etwas hinauszögern»
Also suchte Sandra Bollliger nach alternativen Lösungen. Als Flight Attendant weilte sie öfters in den USA, wo Homeschooling schon viel verbreiteter gewesen sei. Sie entschied sich, es ebenfalls zu versuchen. Nicht ganz nach dem Willen ihres Mannes: «Kannst du nicht mal etwas einfach normal machen …», habe er zu ihr gesagt, erzählt sie lachend. «Vorerst plante ich bloss, die Kleinkindzeit etwas hinauszuschieben, um unseren eigenen Familienrhythmus noch etwas beizubehalten.»
Doch dann wurden ihr Schritt für Schritt weitere Dinge bewusst, die sie an der Schule stören würden: «Meine Tochter konnte schon im Kindergarten schreiben und lesen. Da dachte ich, ich verbringe lieber mehr Zeit mit den Kindern, anstatt dass sie in die Schule gehen um Sachen zu lernen, die sie schon können.»
Und dabei blieb die Familie: Diesen Sommer schliessen die beiden älteren Kinder nun bereits die obligatorische Schulzeit ab.
Bolligers machen morgens Unterricht, die Kinder sind meistens vor 7.30 Uhr am Arbeitsplatz. Die älteren beiden arbeiten für sich, die Mutter sitzt meistens mit den jüngeren beiden am Tisch. Sie bearbeiten ein Fach pro Morgen. Malin und Noé arbeiten oft auch am Nachmittag noch an ihren Aufgaben, Nisha und Amani mögen es, stundenlang zu spielen, zum Beispiel Playmobil. «Jetzt gerade haben sie die Berliner Mauer gebaut, während des Corona-Lockdowns ein Haus mit vielen Vorräten angelegt», erzählt die Mutter. Und nachmittags? «Da sind wir oft alle vier zusammen im Garten, gestern haben wir zum Beispiel Regenwürmer gesammelt», sagt Malin.
Am späteren Nachmittag besuchen die vier dann die Trainings ihrer Vereine, dazu gehören Schwimmen, Geräteturen und Tanzen, und samstags gehen alle in die Pfadi.
«Wir müssen bei der Schulgemeinde jeweils eine Jahresplanung einreichen, inklusive Stundenplan», sagt Sandra Bolliger. Einmal pro Jahr kommt ein Schulinspektor zu ihnen und schaut sich an, was sie machen.
Malin mag am Unterricht des Homeschoolings besonders, dass sie neue Konzepte ausprobieren, die Lehrmittel selber auswählen und fächerübergreifend lernen können. Ihre Mutter zählt Beispiele auf: «In den Ferien in der Normandie behandelten wir den Zweiten Weltkrieg, in Berlin die DDR – so kann man sich Geschichte und Geografie merken», sagt sie. «Und Englisch ist für uns nicht einfach ein Fach, wir wenden es im Alltag an.»
Für Malin ist es ganz natürlich, dass ihre Mutter ihr auch den Schulstoff beibringt. «Eine Mutter bringt ihren Kindern ja auch Sprechen und Schuhe binden bei.»
«Ich fände einen Standard-Test für Homeschooling-Kinder erstrebenswert, damit sie sehen, wo sie stehen, und etwas vorzuweisen haben.»
Sandra Bolliger schätzt zudem den engen Kontakt zu ihren Kindern, den das Homeschooling mit sich bringt: «Viele Eltern verlieren den engen Bezug zu ihren Kindern, wenn diese ausser Haus zur Schule gehen oder von klein auf in einer Krippe betreut werden», sagt sie. Homeschooling-Familien verbindet oft ein enges Band. Und sie hätten weniger pubertäre Probleme. «Die Kinder sind an Erwachsene gewöhnt und ihnen gegenüber respektvoller. Ohne ihre Peer Group von Gleichaltrigen haben sie den Druck nicht, cool sein zu müssen.»
«Weil wir den ganzen Tag mit den Eltern und in der Familie verbringen, sprechen wir auch keinen Teenie-Slang», sagt Malin. «Jugendliche untereinander benehmen sich anders – das fällt uns jeweils auf, wenn wir mal eine Woche in einem Lager sind.»
Sandra Bolliger ist ausgebildete Kauffrau und arbeitet als Flight Attendant. Zudem hat sie verschiedene Weiterbildungen gemacht, etwa das Proficiency in Englisch. «Wir halten uns an den Lehrplan. Ein gewisser Bildungsstand ist nötig, damit den Kindern schulisch kein Nachteil entsteht», sagt sie. «Manche Dinge muss man outsourcen: Ab der fünften Klasse nahm ich mit Malin drei Jahre Lateinstunden in der Migros Klubschule. Und einmal pro Woche kommt ein Student zu uns, um die Kinder in Geometrie zu unterrichten.» Die Kinder würden selbständig arbeiten, manchmal brauche es von jemandem einen Anstoss. Sandra Bolliger ist überzeugt: «Sie lernen so mindestens gleich viel wie in der Schule. Meine ältere Tochter bestand schon in der achten Klasse das Certificate in Advanced English.»
«Gewisse Lerninhalte muss man als Homeschooling-Familie outsourcen»
«Ich erhalte immer wieder gutes Feedback von den Sporttrainern meiner Kinder», sagt Sandra Bolliger. «Sie arbeiten sehr selbständig, das sehe ich auch, wenn ich wegen meiner Arbeit länger weg bin von zu Hause und ihnen für diese Zeit Aufgaben gebe: Wenn ich heimkomme, haben sie alles erledigt. Ich fände aber einen Standard-Test für Homeschooling-Kinder erstrebenswert, damit sie sehen, wo sie stehen – und etwas vorzuweisen haben.»
Durch ihre Hobbys und Mitgliedschaften in ihren Vereinen haben Bolligers auch Kontakte zu anderen Kindern. Ausserdem würden Homeschooler-Familien untereinander einen engen Kontakt pflegen, etwa mit Schulreisen, Ausflügen und Lagern. «Aber logisch sind meine Kinder weniger mit anderen Kindern zusammen, doch das ist für sie normal», so die Mutter.
«Ich brauche nicht ständig Kollegen um mich herum», sagt Malin. «Ich verbringe viel Zeit mit meinen Geschwistern, sie sind meine besten Freunde. Und ich habe auch gern mal meine Ruhe und Zeit, etwas zu lesen.»
«Homeschooling-Kinder haben ein enges Verhältnis zu ihren Geschwistern»
Bezüglich Sozialkompetenz sieht sie keinen Nachteil: «Die meisten Homeschooler sind sozialer», findet Malin: «An Treffen mit anderen Homeschooling-Familien kommen Kinder im Alter zwischen null und fünfzehn Jahren zusammen, alle aus Familien mit verschiedensten Erziehungsmodellen – und trotzdem gibt es fast nie Streit», sagt sie. Das liege vielleicht daran, dass in der Familie das Ellbögeln wegfalle. «Man kann sein wie man will, denn in der Familie haben dich eh alle gern.» Und ihre Mutter sagt: «Viele Homeschooler haben ein enges familiäres Band.»
«Homeschooling-Kinder werden stark, indem sie sich selber vertrauen, indem sie lernen: ‹Mir gelingt, was ich mache, ich bin gut, wie ich bin.› Das Ellbögeln fällt bei uns weg», erzählt Bolliger. «In der Schule gibt es Kinder, die zehn Jahre lang leiden, weil sie nicht dazu gehören. Wo kommt diese unbändige Wut mancher Kinder her?» Malin: «Ich kenne kein Homeschooler-Kind, das austickt oder frech ist zu den Eltern.»
Sandra Bolliger findet: «Ziel der Bildung ist es, sozial verträgliche Wesen ins Leben zu lassen. Das gelingt mit Homeschooling sehr gut.» Ihre Tochter pflichtet ihr bei: «Wir sind ausgeglichen, können uns selber sein, unsere Persönlichkeit so entwickeln, wie wir wollen.»
«Ich dachte früher oft, hoffentlich kommt alles gut bei der Lehrstellensuche», gibt Sandra Bolliger zu. «Homeschooler sind auf Lehrmeister angewiesen, die offen sind und interessiert. Und heute sind Zeugnisse zum Glück nicht mehr allein seligmachend.» Zudem habe sie es zuversichtlich gestimmt, dass sie noch nie von einem Homeschooling-Kind gehört habe, das nach der Schulzeit zu Hause keine Anschlusslösung gefunden habe. «Es gibt immer wieder Wege, man kommt immer wieder rein ins System, das ist mir in den vergangenen Jahren bewusst geworden.»
Malin hat die Kantiprüfung bestanden. «Sie will nun am liebsten auch die Matur im Selbststudium machen, das müssen wir uns jetzt anschauen», sagt die Mutter. Noé startet nach den Ferien seine Lehre auf einer Bank. «Das will er, seit er zwölf ist – für ihn war klar, dass er nicht mehr weiter in die Schule gehen würde nach der neunten Klasse», erzählt Sandra Bolliger. Und fügt stolz an: «Er konnte sich siebenmal für eine Lehre auf einer Bank vorstellen und kann nun zwischen zwei Lehrstellen auswählen.»
Was hingegen die Schule an Vorteilen zu bieten hat, lest ihr in unserem Interview mit einer Bildungsexpertin.