Jeannine Donzé, für viele Menschen ist der Muttertag ein schwieriges Datum. Warum?
Es ist ein spezielles Datum. Der Muttertag ist spannenderweise im Gegensatz zum Vatertag oder der Welt-Kinderlosenwoche gesellschaftlich etabliert. Er entstand im frühen 20. Jahrhundert in den USA. Heute haben viele Länder im Frühjahr einen offiziellen Muttertag. Dieser hat als Feiertag etwas Ausschliessendes. Während zum Beispiel an Weihnachten universelle Qualitäten wie die Herkunftsfamilie oder die Gemeinschaft gefeiert werden, feiert der Muttertag nur einen Teil der Gesellschaft und hebt darüber hinaus ein stilisiertes Mutterbild hervor. Das schliesst diejenigen Menschen aus, die diesem Bild nicht entsprechen.
Man spricht von Muttertagstrauer, wenn jemand diesen Feiertag als belastend empfindet. Trifft das auf viele Menschen zu?
Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch leiden an diesem Tag natürlich besonders. Aber Muttertagstrauer trifft auch Frauen mit Kindern. Mütter, die vorgeburtliche Verluste erlebt oder ein Kind verloren haben. Mütter, deren Wunsch nach mehr Kindern nicht in Erfüllung geht. Alleinerziehende Mütter, denen Wertschätzung durch einen Partner fehlt. Mütter, die unter einem Kontaktabbruch zu ihren Kindern leiden. Oder Frauen älterer Generationen, die sich Grosskinder wünschen. Sie trifft auch Kinder, deren Mütter bereits verstorben sind. Oder generell Menschen, die sich etwa wegen Krankheit oder sexueller Orientierung als Aussenseiter der Gesellschaft fühlen.
«Der Muttertag ist mit Recht ein Grund zur Freude. Aber eben auch ein Datum mit grossem Triggerpotenzial.»
Jeannine Donzé
Finden Sie es also falsch, den Muttertag zu feiern?
Nein. Der Muttertag ist mit Recht ein Grund zur Freude. Aber eben auch ein Datum mit grossem Triggerpotenzial.
Was triggert der Muttertag genau?
Nicht bei allen dasselbe. Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch trauern um einen Lebensentwurf, den sie nicht leben können. Manche betrauern das eigene Wunschbild von sich als Mutter oder das gemeinsame Dritte als Paar. Andere das versäumte physische Erleben einer Schwangerschaft oder des Stillens. Wieder andere betrauern körperliche Unzulänglichkeiten, Organe, die nicht so funktionieren, wie sie sollten. Oder sie erleben ein Gefühl des Ausgeschlossenseins von der Gesellschaft, die das stilisierte Mutterbild so feiert. Ausserdem fühlen sich kinderlose Frauen am Muttertag oft in die Rolle der Tochter gedrängt, die sich, obwohl sie eventuell durch einen unerfüllten Kinderwunsch getriggert wird, an diesem Tag um ihre eigene Mutter kümmert.
Was schlagen Sie als Lösung vor?
Es würde helfen, wenn man den Tag breiter denkt. Anstatt ein stilisiertes Mutterbild zu feiern, könnte man die Mütterlichkeit ins Zentrum setzen. Das wäre inklusiver. Ein Tag der Mütterlichkeit wäre verbindend. Es wäre ein gemeinsamer Nenner von all den genannten Gesellschaftsgruppen. Denn Mütterlichkeit kann man unabhängig von biologischer Mutterschaft ausleben. Sei es auf der Arbeit, mit Patenkindern, Haustieren, den Pflanzen im Garten. Und insbesondere im Umgang mit sich selbst.
«Anstatt ein stilisiertes Mutterbild zu feiern, könnte man die Mütterlichkeit ins Zentrum setzen.»
Jeannine Donzé
Sie beraten in Ihrer Berner Praxis und online Frauen und Paare rund um die Kinderfrage. Sei es bei ambivalentem Kinderwunsch oder in der Neuorientierung bei unerfülltem Kinderwunsch und nach vorgeburtlichen Verlusten oder reproduktionsmedizinischen Eingriffen. Daneben führen Sie eine Gesprächsgruppe für Frauen ohne Kind. Merken Sie rund um den Muttertag einen Anstieg der Beratungsfragen in ihrer Praxis?
Ich habe das Gefühl, dass der Muttertag an sich nicht in jedem Umfeld den gleichen Stellenwert hat. Es ist ein Datum, das nicht für alle gleich wichtig ist. Trotzdem erlebe ich in meiner Austauschgruppe zum Thema Frausein ohne Kind, die ich in meiner Praxis in Bern führe, dass der Muttertag kinderlose Frauen beschäftigt.
Was raten Sie betroffenen Frauen?
Was am Muttertag selbst hilft, ist der Weg in die Selbstfürsorge und Selbstfreundschaft. Das bedeutet, dass man den Tag vorausschauend plant, sich fragt, was einem an diesem Tag guttun könnte. Ein unerfüllter Kinderwunsch oder vorgeburtliche Verluste lassen Betroffene oft ohnmächtig zurück. Dem wirkt man entgegen, indem man handelt. Wer den schwierigen Tag selbstbestimmt gestaltet, fühlt sich weniger ausgeliefert. Gut tun kann der Austausch mit anderen Betroffenen, aber auch, dass man ganz bewusst eine Unternehmung plant, die mit Kindern nicht möglich wäre.
Bewusst die Autonomie schätzen?
Genau. Man kann die Kinderlosigkeit auch als Kinderfreiheit ansehen. Man hat die Hände frei für Projekte, Reisen, Beruf und Partnerschaft. Eine Beziehung ohne Kinder hat für viele Paare ohne Kind eine ganz eigene Qualität, weil man nicht wegen Kindern zusammen ist. Bei unerfülltem Kinderwunsch ist dieses Erkennen der Ressourcen ein wichtiger Weg in der Versöhnung und Verarbeitung. Es geht um einen Fokuswechsel, weg von dem, was fehlt, hin zu dem, was ist oder noch werden kann.
«Aus psychologischer Sicht ist eine ungewollte Kinderlosigkeit vergleichbar mit einem Todesfall.»
Jeannine Donzé
Welche Trauerphasen muss man dafür durchleben?
Aus psychologischer Sicht ist eine ungewollte Kinderlosigkeit vergleichbar mit einem Todesfall. Solche Verluste zeigen Muster, die unabhängig von der Art des Verlustes ähnlich ablaufen. Man spricht gängig von vier Phasen: 1. Nicht-Wahrhaben-Wollen, 2. Aufbrechende Emotionen, 3. Abschiednehmen und Anpassung, 4. Neuorientierung. Die heutige Trauerforschung spricht aber bewusst nicht mehr von Trauerphasen, sondern von Traueraufgaben. Denn eine Phase durchlebt man passiv, eine Aufgabe kann man aktiv mitgestalten. Oft wird durch die Trauerarbeit eine positive Entwicklung angestossen, die mit einer Erstarkung der Persönlichkeit einhergeht. Man sucht sich einen neuen Sinn im Leben, man hinterfragt bisherige Entscheidungen, man hat die Freiheit, alles neu zu gestalten. Ein unerfüllter Kinderwunsch nimmt oft Jahre eines Lebens in Anspruch. Er ist daher auf Entwicklungsebene genauso relevant und biografisch wie Entwicklungen, die durch Mutterschaft angestossen werden.
Wie kann jemand, der den Muttertag feiert, Empathie zeigen, ohne sich selbst die Freude zu verbieten?
Ein Problem unserer Gesellschaft ist, dass wir so stark trennen zwischen Frauen, die Mütter sind, und Frauen, die keine Kinder haben. Oft haben beide Gruppen wenig Verständnis für einander. Ich plädiere dafür, das Verbindenden zu suchen und offen mit den eigenen Gefühlen umzugehen. Dabei können Frauen gegenseitig beieinander einen Lernprozess anstossen. Sätze wie «die Zeit heilt alle Wunden» sind generell schwierig, die sollte man meiden.
Das Sachbuch «Was wir in die Welt bringen – Frauen zwischen ‹kinderlos› und ‹kinderfrei›» setzt sich mit der Frage «Mutter werden oder nicht?» auseinander. Jeannine Donzé lässt darin Frauen ohne Kind mit verschiedenen biografischen Hintergründen, was Beruf, Religion oder sexuelle Orienterung anbelangt, erzählen. Das Buch beleuchtet die Kinderfrage nicht nur aus persönlicher Perspektive, sondern auch in gesellschaftlichem, politischem und medizinischem Kontext. «Das Buch will in der eigenen Kinderfrage begleiten, zum Nachdenken über die gesellschaftliche Konnotation des Konzepts der Mutterschaft anregen und den Blick für alternative Lebensentwürfe weiten.», heisst es beim Verlag.
Autorin Jeannine Donzé ist Psychologische Beraterin IKP. Sie begleitet in ihrer Praxis in Bern und online Frauen und Paare in der Kinderfrage und im Abschied vom Kinderwunsch und leitet die Austauschgruppe «FrauSein ohne Kind Bern» für Frauen ohne Kind. Sie gibt Lesungen und Vorträge für Betroffene und Fachleute. Donzé ist selbst eine Frau ohne Kind.
Die Frage sei dennoch erlaubt: Wird die Zeit die Wunde eines unerfüllten Kinderwunsches heilen?
Ein kinderfreies Leben kann durchaus erfüllend und sinnhaft sein. Bei der Trauer um einen Verlust spielt die Zeit ganz sicher eine Rolle. Aber die Verarbeitung passiert nicht automatisch sondern will gestaltet sein. Verdrängte Trauer kann sich manifestieren und eine Opferrolle begünstigen oder seelische und psychosomatische Symptome auslösen. Etwa Schmerzen, Erschöpfung, Schlafprobleme oder eine Depression. Auch alle Formen von Aktivismus wie einfach Weiterfunktionieren als wäre nichts geschehen oder sich in die Arbeit stürzen sind dysfunktional.
Was macht Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch Mut?
Vielleicht das Wissen, dass es in jedem Leben Ungelebtes gibt. Auch Mütter müssen verzichten, oder junge Eltern auf der Paarebene. Es gibt keine Garantie auf Glück, wenn man Kinder hat. Im Gegenteil, die Statistik sagt, dass Paare mit kleinen Kindern sogar unglücklicher sind als Kinderlose. Allerdings glaube ich, dass man das eigene Glück aktiv mitgestalten kann. Diesen Prozess versuche ich bei den Frauen und Paaren anzustossen, die in meine Praxis kommen.
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