Zwei Ruderboote queren pfeilschnell den Sarnersee. Jeannine Gmelin registriert es, man merkt es ihr fast nicht an. «Ich habe die Boote gesehen», sagt sie. «Ohne Wehmut.» Das Leben der Skiff-Weltmeisterin von 2017 ist weniger als ein Jahr nach ihrem Rücktritt ein anderes. Sie baut sich ein Standbein als Life-Coach auf – und sie ist frisch verliebt! Die 35-Jährige staunt selber darüber, wie schnell und tief ihr neuer Partner Marcel Nessier ihr Herz erobert hat.
Der Tag am Sarnersee ist ein ganz besonderer für Jeannine Gmelin. Zum ersten Mal zeigt sie sich offen mit dem neuen Mann an ihrer Seite. Es ist aber auch der Geburtstag ihres vorherigen Partners und Trainers Robin Dowell, der im Dezember 2022 mit nur 40 Jahren ums Leben kam: Beim Training auf dem Sarnersee, und Jeannine war dabei. «Mein Herz ist an diesem Tag etwas schwerer als an anderen Tagen.»
Sofort findet sie ihr Lachen wieder, spiesst eine Wurst auf einen angespitzten Ast und hält diesen ins flackernde Feuer. Dass die ehemalige Spitzensportlerin vorwärtsschauen will, heisst nicht, dass sie Robin vergessen hat. Es heisst vielmehr, dass sie die Trauerarbeit gemacht hat. Robin soll immer ein Teil ihres Lebens bleiben. Und er darf diesen Platz haben – auch in ihrer neuen Beziehung.
Jeannine Gmelin und Marcel Nessier (44) kommen Anfang Jahr zum ersten Mal in Kontakt – online. Sehr schnell jedoch beschliessen sie, sich zu treffen. «Ich wollte ihm auf keinen Fall so viel über mich schreiben, dass er mich googeln kann», erinnert sich Jeannine schmunzelnd. Denn Marcel hat keine Ahnung, auf wen er sich da eingelassen hat.
Der gelernte Metzger Marcel Nessier weiss, wies geht. Und freut sich: «Bei Jeannine stimmt das Gesamtpaket.»
Kurt ReichenbachAushalten können
Jeannine Gmelin weiss: «Meine Geschichte ist gross und tief. Es braucht jemanden, der das aushalten kann, wenn ich die Worte Tod oder Verlust in den Mund nehme. Schon beim ersten Treffen war mir klar, die Kapazität ist emotional da. Zu merken, dass dieses Thema bei Marcel auf Resonanz stiess, war Grundvoraussetzung, damit sich überhaupt ein Kribbeln im Bauch, ein Verliebtsein, etwas Wahrhaftiges entwickeln konnte.»
Die Karten liegen sofort auf dem Tisch. Der Grund dafür ist ihre Leidenschaft für Kaffee. Jeannine wurde einst von Robin mit dem Kaffeevirus angesteckt. Marcel seinerseits hat sich kurz vor dem ersten Date zufällig eine neue Siebträgermaschine gekauft. Sie beschliessen, bei ihrem Treffen einen «guten Kaffee» zu trinken. «Warum hat Kaffee eine so grosse Bedeutung für dich?», ist die erste Frage, die «Mäsi» Jeannine stellt. Sie erzählt als Antwort sofort ihre Lebensgeschichte. «Das war natürlich überraschend», erinnert sich Marcel Nessier. Der gebürtige Walliser lebt seit einigen Jahren in Triengen LU und arbeitet als Produktionsleiter in einem Metzgereibetrieb. Das Unternehmen seiner Familie stellt Walliser Trockenfleischprodukte her. «Ich habe nicht erwartet, mit einem solchen Thema konfrontiert zu werden. Doch ich hatte grossen Respekt vor Jeannines Lebensgeschichte, vom ersten Moment an.»
Natürlich sei es ein Prozess gewesen, sagt Jeannine Gmelin. «Mir war immer bewusst, wenn ich eine neue Beziehung habe, wird Robin darin eine Rolle spielen. Aber eine andere.» In einer ersten Phase des Trauerns habe sie sich physisch von Robin lösen, die Beziehung auf eine rein mentale Ebene bringen müssen. «Und dann musste ich mich lösen von der Liebesbeziehung, die wir hatten. Ich wusste, ich möchte irgendwann einen neuen Partner haben und eine neue Beziehung leben.» Damit sie sich voll und ganz dieser Person widmen könne, habe sie mit Robin einen Abschluss finden müssen. «Jetzt ist es mehr eine brüderliche, platonische Liebe.» Es sei nie darum gegangen, Robin zu ersetzen, betont Gmelin. «Er wird immer Teil meiner Geschichte sein, und wenn Marcel das nicht akzeptieren könnte, wäre er jetzt nicht hier.»
«Beim Trauern musste ich mich von der Liebesbeziehung lösen.»
Kurt ReichenbachEifersüchtig auf Robin sei er nie gewesen. «Keine Sekunde.» Charakterlich seien sich die beiden Männer ähnlich, sagt sie. Optisch seien sie dagegen sehr unterschiedlich. «Ich habe etwas Zeit gebraucht, damit umzugehen, dass das Erscheinungsbild anders ist, alles andere aber so nah und ähnlich wie vorher.» – «Ich habe es geschätzt, wenn es eine Parallele gab», sagt Marcel Nessier. «Doch ich bin immer authentisch. Wenn wir Parallelen entdecken, entsteht das alles aus dem Moment und ist reiner Zufall. Ich bin ich, und sie ist sie. Es hat einfach gematcht. Dass Robin irgendwie dazugehört, ist selbstverständlich.» – «Marcel hat mir vom ersten Moment an Sicherheit gegeben. Es war schnell klar, dass wir uns aufeinander einlassen wollen. Voll und ganz. Auch wenn man damit in Kauf nimmt, vielleicht verletzt zu werden.»
«Mäsi bringt mich zum Lachen»
Am meisten schätzt das Paar die gemeinsame Zeit. Egal, ob draussen in der Natur, beim Sport oder «Mölkky»-Spielen am See, beim Grillieren oder einfach gemütlich auf dem Sofa. Reden. Lachen. Schweigen. Musik hören. «Was wir machen, spielt keine Rolle, Hauptsache, wir sind zusammen.» An Marcel schätzt Jeannine seine emotionale Intelligenz, seine Präsenz. «Er bringt mich zum Lachen, steht mit beiden Beinen im Leben, und wir begegnen uns auf Augenhöhe. Wir teilen eine grosse Dankbarkeit dem Leben und einander gegenüber.»
Etwas Trauer schwingt mit – aber unendlich viel mehr Lustiges. Jeannine und Marcel können
zusammen lachen und tun das ausgiebig.
Marcel findet Jeannine «herzig», was bei ihr einen Lachanfall auslöst. «Doch das reicht nicht, das Gesamtpaket muss stimmen. Ihr grosses Herz und ihre liebevolle Art begeistern mich. Sie kann annehmen, was ich gebe, und umgekehrt. Wir können über alles reden, auch über unangenehme Themen.» Die Zukunft sehen sie ganz klar zusammen, und sie freuen sich darauf, diese gemeinsam zu gestalten. «Ich bin beruflich in einer Findungs- und Aufbauphase», sagt Gmelin. Erst im vergangenen November ist sie nach ihrem Comeback ein zweites Mal vom Rudersport zurückgetreten. Sie ist daran, erste Projekte im Bereich Coaching und Persönlichkeitsentwicklung zu realisieren. «Ich möchte Menschen helfen, näher zu sich selbst zu kommen. Doch es braucht Zeit, das alles aufzubauen. Diese Zeit will ich mir nehmen.» Ein neuer Weg, anders als geplant, nicht weniger wertvoll. Sie wird ihn nicht alleine gehen.