Das Jagdgewehr von David Gerke (40) liegt bereit. «Diese Woche ist im Kanton Bern die Rehjagd eröffnet», sagt er und streichelt dem polnischen Strassenhund Imbir über den Kopf. Zuerst aber füttert er seine Schafe. 60 Mischlinge, Spiegelschafe und Skudden leben auf dem Biohof von Gerke und seiner Frau Bea in Biembach im Emmental. Bewacht werden sie zum einen von einem Zaun, zum anderen von den drei Herdenschutzhunden Nero, Belle und Canello. Zwar ist im unteren Emmental kein Wolfsrudel heimisch, doch vor zwei Jahren tappte ein Tier nachts in die Fotofalle. «Einen Wolf im eigenen Wald zu sehen, war schon toll», sagt der Biologe und Geschäftsführer der Gruppe Wolf Schweiz.
Herr Gerke, wen mögen Sie lieber: das Schaf oder den Wolf?
Hätte ich die Wahl zwischen einem Schaf, das mir gehört und für das ich sorge, und einem Wolf, der ein wild lebendes Tier ist, würde ich mich für das Schaf entscheiden. Weil ich eine emotionale Beziehung zu ihm habe.
Wie also können Sie sich als Schafzüchter für den Wolf einsetzen?
Wieso nicht? Man kann Schafe ja gut schützen, ohne die Wölfe zu töten.
Aber der Wolf tötet Hunderte Schafe pro Jahr. Konkret waren es 2024 rund 1000. Tut Ihnen das nicht weh?
Ich habe selber zehn Sommer auf der Alp als Schafhirte verbracht. Obwohl während dieser Zeit keines meiner Schafe gerissen wurde, habe ich Risse von Wölfen gesehen. Das ist immer sehr emotional für die Besitzer der Tiere. Und ich verstehe jeden Tierhalter, der sagt, er möchte den Wolf nicht. Ich habe einfach eine andere Sicht.
Die Zahl der Wolfsrudel stieg in den letzten zehn Jahren von 2 auf 39. Um die Wölfe präventiv zu regulieren, hat Umweltminister Albert Rösti 2023 den Schutz gelockert. Seitdem dürfen Wölfe auch abgeschossen werden, bevor sie Schaden angerichtet haben. Was halten Sie davon?
Für mich persönlich sind die Abschüsse sehr schmerzhaft. Aber irgendwie müssen wir das Zusammenleben zwischen Menschen und Wölfen managen. Dazu gehört auch, Wölfe in gewissen Situationen selektiv abzuschiessen.
Damit machen Sie sich bei Wolfsfreunden wohl nicht so beliebt.
Bei den Wolfsfundamentalisten gelte ich als Verräter, weil ich Jäger bin. Die Wolfsgegner schimpfen, ich sei kein richtiger Bauer. Es gibt Phasen, in denen die Kritik belastend ist. Dann sage ich mir: Wenn mich beide Seiten kritisieren, bin ich ja schön in der Mitte (lacht).
«Der Wolf verursacht nur zwei Prozent der toten Schafe in der Schweiz», sagt Gerke. Über seine Schafe wachen die Herdenschutzhunde Belle, Canello und Nero.
Kurt Reichenbach2022 war ein Extremjahr, was Wolfsrisse betrifft, dann haben die Zahlen abgenommen. Hat das mit den präventiven Abschüssen zu tun?
Dieses Jahr sehen wir wieder eine leichte Zunahme der Risse. Der Effekt scheint also relativ gering zu sein und es gibt keine klare Tendenz. Weder sind die Schäden komplett explodiert, noch sind sie eingebrochen. Besonders kritisch sehe ich die Abschüsse von ganzen Rudeln wie etwa im Wallis. Diese Bewilligungen erteilt das Departement von Albert Rösti schnell – obwohl mit der Jagdverordnung die Schwelle für Rudelabschüsse seit einem Jahr erhöht wurden.
Letzte Woche hat sich der Ständerat dafür ausgesprochen, den Abschuss von Wölfen neu auch in Jagdbanngebieten zu erlauben. Was bedeutet das?
Jagdbanngebiete sind die einzigen Gebiete, in denen Wildtiere generell Ruhe haben vor Verfolgung und weiteren menschlichen Störungen. Etwa gilt dort für Hunde ein Leinenzwang. Bei der Revision des Jagdgesetzes, das seit Februar 2025 definitiv in Kraft ist, hat das Parlament klar gesagt: Wir lassen die Wölfe im Jagdbanngebiet in Ruhe, auch um einen Lenkungseffekt zu haben. Sprich, wenn man Wölfe nur ausserhalb des Gebiets abschiesst, können sich die Tiere in Jagdbanngebiete zurückziehen. Der Ständerat verhindert mit seinem Entscheid, dass man die Wölfe in eine gewünschte Bahn lenken kann.
Was ist denn Ihr Rezept, damit das Zusammenleben mit dem Wolf gelingt?
Es ist ein Rezept mit vielen Zutaten. Die Grundzutat ist der Herdenschutz. Ohne ihn geht es nicht, und er muss flächendeckend sein. Bei den weiteren Zutaten sind Abschüsse ein Teil. Hinzu kommt die Information der Bevölkerung. Etwa dass man keine Wölfe absichtlich füttert oder Katzenfutter nicht draussen deponiert. Wichtig ist natürlich auch die Forschung.
Herdenschutz ist aufwendig und kostenintensiv. Viele Bauern sagen, sie seien am Anschlag.
Für einen Landwirtschaftsbetrieb ist Herdenschutz zu teuer, das ist so. Andererseits ist klar, dass wir im 21. Jahrhundert keine Tierarten mehr ausrotten. Als Gesellschaft müssen wir die Bauern deshalb unterstützen. Als reiches Land können wir uns das definitiv leisten.
Das ist ... David Gerke
Der Solothurner hat Geografie und Biologie studiert und an der Uni für Bodenkultur in Wien als Jagdwirt abgeschlossen. Er ist Geschäftsführer der Gruppe Wolf Schweiz, Präsident des Fischereivereins Solothurn und Kantonsrat (Grüne). Gerke ist verheiratet, Mitinhaber eines Biohofs im Emmental und lebt in Biberist SO.
Warum braucht es den Wolf überhaupt in der Schweiz?
Da muss ich die Gegenfrage stellen: Haben nur Tierarten eine Existenzberechtigung, die wir Menschen brauchen? Ich hoffe nicht, sonst wäre unsere Natur sehr schnell sehr arm. Der Wolf hat in der Natur einen sehr grossen Nutzen.
Inwiefern?
Er ist der Fressfeind von Rehen, Rothirschen, Gämsen und weiteren Paarhufern. Das sind Tierarten, die sich nicht selber regulieren, sondern sich vermehren, bis sie ihren Lebensraum massiv übernutzen. Deshalb braucht es die Regulation, um dem Wald zu helfen. Wir Jäger kommen aber an unsere Grenzen und können nicht alle Abschüsse realisieren. Wölfe wie auch Luchse jagen alte, kranke und schwache Tiere – und das ganzjährig. Sie halten den Bestand somit auch qualitativ gesund.
Der Wolf reisst aber mehr Tiere, als er fressen kann. Und verletzt sie teils nur.
Wir dürfen nicht vergessen, dass Wölfe Aasfresser sind. Das konnte ich schon selber beobachten. Da kommen Wölfe über Wochen zurück, um die gerissenen Schafe zu fressen. Während die Männchen im Sommer jagen, kümmern sich die Weibchen um die Jungen. Sprich der Leitwolf muss mehr Beute machen, als er fressen kann – sonst würde das Rudel verhungern. Aber meist geben wir den Wölfen gar keine Zeit dafür, das Aas zu fressen. Kaum sind die Schafe gerissen, kommt der Helikopter und entsorgt die Tiere. Klar muss der Wolf dann neue Beute suchen.
Die Gruppe Wolf Schweiz hat 1800 Mitglieder und ist somit die grösste Wolfsschutzorganisation der Schweiz.
Kurt ReichenbachDer Bund prüft derzeit, ob Hirtinnen und Hirten bei einem Wolfsangriff auf ihre Schafherde Verteidigungsabschüsse abgeben dürfen. Wäre das eine Lösung?
In Frankreich gibt es diese Praxis seit über zehn Jahren, und trotzdem hat unser Nachbar europaweit die höchste Zahl an gerissenen Nutztieren. Man hat also die Schäden auch mit dem Verteidigungsabschuss nicht im Griff, wenn man die Herden nicht schützt.
Stimmt es, dass Wölfe so clever sind, dass sie Herdenschutzmassnahmen umgehen können?
Der Wolf ist ein sehr intelligentes Tier – darum kann man ihn auch erziehen. Das Beispiel eines Elektrozauns zeigt das. Die meisten Wölfe respektieren Elektrozäune besser als Rehe und Hirsche. Aber sie können auch lernen, diese zu überspringen. Dann haben wir natürlich ein Problem. Hier müsste man bei der Regulation ansetzen: Jene Wölfe herausnehmen, die das Falsche gelernt haben. Mit der präventiven Regulierung machen wir aber etwas anderes.
Nämlich?
Die Abschusssaison ist von September bis Ende Januar. Das heisst, wir schiessen die Wölfe meist im Winter, fernab von Nutztieren und Siedlungen. Da erkennt jedes Kind, dass die Tiere so nichts lernen.
Fakten
320 Wölfe wurden Anfang 2025 in der Schweiz gezählt. Die meisten Rudel leben in Graubünden, gefolgt vom Wallis und dem Tessin.
3 bis 4 Kilo Fleisch benötigt ein erwachsener Wolf pro Tag. Auf ein Jahr hochgerechnet, entspricht das etwa 60 Rehen.
300 Kilometer gross ist ein Wolfsrevier in der Schweiz maximal, wobei die Grösse von der Beute abhängt.
Woher kommt Ihre Faszination für Wölfe?
Mein Interesse ist in der späteren Jugend erwacht. Zu diesem Zeitpunkt gabs in der Schweiz nur einen Wolf. Mich faszinierte, dass es ein einzelnes Tier schaffte, ganze Zeitungsseiten zu füllen. Später kamen weitere Aspekte dazu – vor allem die Kulturgeschichte. Wir haben ja einen Canis lupus, also einen Wolf hier in diesem Raum (streichelt Hund Imbir). Wäre er nicht kastriert, könnte man ihn mit einem Wolf kreuzen. Viele Wolfsgegner haben also einen domestizierten Wolf in ihrer Stube. Kein Tier hat es so nahe zum Menschen geschafft und wird trotzdem als Wildtier so gehasst. Diese Diskrepanz finde ich einmalig.
Wie viele Wölfe verträgt die Schweiz?
Aus einer rein naturwissenschaftlichen Perspektive sicher über 100 Rudel. Aber es gibt gesellschaftliche Bedürfnisse und Ängste. Man macht dem Wolf keinen Gefallen, wenn man diese nicht ernst nimmt. Aus gesellschaftlichen Gründen werden wir sicher weniger Rudel haben, als aus ökologischer Sicht möglich wären.
Kommen die Wölfe künftig auch in die Städte?
Wölfe würden auch semiurbane Gebiete besiedeln. Das Schweizer Wolfsmanagement greift hier aber früh ein. Man schiesst die Wölfe, welche sich den Menschen nähern. Spannend wird die Entwicklung in den ländlichen Gebieten im Mittelland. Dort sind die Rehbestände sehr hoch, es gibt zunehmend Wildschweine und Rothirsche – sprich der Wolf hätte genug Nahrung. Ich gehe davon aus, dass sich künftig Rudel bis an den Rand des Baselbiets und des Aargaus etablieren.