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Mittelklasse

So gechillt – und doch so gestresst

Mit zunehmendem Alter müsste man doch langsam weniger gestresst sein, denkt unsere Bloggerin. Das ist auch so. Job, Familie und Beziehung jongliert sie nämlich mittlerweile ziemlich gut. Es sind kleine, ganz seltsame Dinge, die sie immer wieder mal aus der Bahn werfen.

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Job und Haushalt unter einen Hut kriegen? Kein Problem. Aber die Billetkontrolle im Zug kann unsere Bloggerin ganz schön nerven.

Lucia Hunziker

Die Schweiz ist gestresst. Und zwar ziemlich fest. Und in erster Linie die Frauen. Das sagt die aktuelle Gesundheitsstudie eines Krankenversicherers, der «Sanitas Health Forecast». Demnach sind fast die Hälfte aller Frauen unter dreissig häufig gestresst, bei denen bis Mitte vierzig ists immerhin noch ein gutes Drittel. Danach nimmts ab und die Ü-60-Fraktion habe kaum noch Stress, heissts in der Studie.

Ich persönlich war ja früher der Meinung, dass ich in dem Alter, in dem ich jetzt bin – also mit Lichtgeschwindigkeit auf die fünfzig zurasend –, in einem buddha-ähnlichen Zustand sein würde. Ich habe zwei Kinder geboren und grossgezogen. Ziemlich viele Stürme überstanden. Geliebte Menschen verloren. Einige Träume gelebt, andere begraben. Was soll mich da noch gross aus der Bahn werfen, ausser natürlich ein Schicksalsschlag, der einen immer treffen kann.

«Meine Stressoren sind nicht der Job oder die Familie, sondern ganz banale, komische Dinge. Zum Beispiel Beine rasieren.»

Ich sags euch: total nebensächliches Zeug. Irgendwie hab ich in den letzten Jahren eine Regel festgelegt: Je unwichtiger, desto mehr stressts mich. Ich habe ein volles Leben, einen vollgepackten Alltag, meine viel zitierte Mental Load ist ziemlich gross. Ich trage einiges an Verantwortung im Job, leite ein Team. Ich habe eine grosse Verantwortung gegenüber meinen Kindern, sowohl finanziell als auch emotional. Ich stelle Pläne auf, wie ich Ausbildungen ermögliche und bin da, wenn ihnen der kalte Wind um ihre gestressten Ohren pfeift.

Ich berate, tröste, kaufe ein, schmeisse den Haushalt, plane, entscheide, schaufle Wochenenden für meinen Partner frei. All das ziemlich stressfrei, auch wenn das vielleicht arrogant klingt. Vieles davon tu ich gern, und ich habe im Laufe der Jahre gelernt, Prioritäten zu setzen. Kein schlechtes Gewissen mehr zu haben, wenn ich Netflix schaue, obwohl die Küche noch nicht aufgeräumt ist. Mir auch mal Zeit für mich zu nehmen, eine Stunde an der frischen Luft oder ein paar Seiten in einem Buch zu geniessen.

Meine Stressoren sind nicht der Job, die Familie oder die Beziehung. Sondern ganz banale, komische Dinge. Zum Beispiel Beine rasieren. Immer, wenn ich merke, dass ich das noch tun sollte – und im Sommer ist das ziemlich oft – stresst mich das total. Überhaupt dieses ganze Gedöns, das man als Frau so veranstalten muss. Ich meine, ich habe acht Stunden gearbeitet heute, die Kaninchen gemistet, gekocht, mir beim Abendessen eine Litanei über die neusten Entwicklungen in der K-Pop-Welt angehört, die Küche aufgeräumt – und jetzt verlangt die Welt allen Ernstes noch von mir, dass ich mir die Zehennägel anmalen soll, weil ich sonst den ganzen Sommer über keine offenen Schuhe tragen darf? Das stresst mich. Und es stresst mich, dass ich mich dem nicht einfach entziehe und mich drum foutiere, was die Welt so von mir erwartet. Kann ich nicht. Ist halt so.

Was mich sonst noch mehr stresst als Job, Familie und Haushalt zusammen? Diese blöden Karten, die ich beim Hauswart aufladen lassen muss, um die Waschmaschine zu benutzen. Billettkontrolle im ÖV. Ich hab eins, lasst mich in Ruhe. Die Frage nach irgendwelchen Plus-Karten beim Einkaufen. Reservationen, die ich nicht online tätigen kann. Ihr seht, der buddha-ähnliche Zustand lässt wohl noch etwas auf sich warten. 

am 6. Juli 2025 - 07:30 Uhr