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Tipps von Margrit Stamm

Das brauchen Jungs, um sich optimal zu entfalten

Mädchen erreichen die höheren Schulabschlüsse, brauchen weniger sonderpädagogische Unterstützung, ecken allgemein einfach weniger an. Und überhaupt: «The future is female», liest man überall. Als Eltern von Buben schluckt man bei dem ganzen Hype um die Mädchen schon mal leer. Wir nicht! Lieber holen wir uns bei der Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm Tipps, wie wir unsere Jungs bestmöglich unterstützen können.

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Jungs spielen Superhelden

Die unbändige Energie vieler Buben kann manchmal etwas anstrengend sein – aber ist doch eigentlich einfach nur wunderbar.

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Buben könnten sich in der Schule nicht mehr so entfalten, wie dies früher der Fall war, sagten Sie in unserem Interview zum Tod des Kinderarztes und Forschers Remo Largo. Was hat sich denn an der Schule für Buben zum Negativen verändert?
Erstens will ich klar festhalten: In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden die Mädchen stark gefördert, dadurch haben sie die Buben überholt. Nicht etwa, weil die Buben sich verschlechtert hätten – die sind gleich gut geblieben. Aber zurück zur Frage, inwiefern sich die Schule für Buben negativ verändert hat: Das hat mit der Hinwendung der Schule zu mehr Sozialverträglichkeit zu tun, emotionale Stabilität hat an Bedeutung gewonnen, die stärkere Kontrolle des körperlichen Ausdrucks, das Berichten über die eigenen Gefühle. Rammeln zum Beispiele gilt heute bereits als Gewalt. Der Unterricht ist weniger wettbewerbsorientiert, auch auf dem Pausenhof sind die Kinder unter Kontrolle. Die Schule hat sich in eine Richtung verschoben, die Mädchen von der Sozialisation und ihrer biologischen Verfassung her eher entspricht. Für Buben ist es schwieriger geworden, die eigenen Neigungen und Möglichkeiten auszudrücken.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Bundesamstes für Statistik zeigt denn auch, dass Knaben doppelt so häufig sonderpädagogische Unterstützung erhalten wie Mädchen.
Buben werden eher zurückgestellt, weil sie in der Entwicklung etwas hintendrein sind, oder bekommen häufiger eine ADHS-Diagnose, weil sie eben lebendiger sind, weniger gut stillsitzen können als Mädchen. Man muss sich Gedanken dazu machen, inwiefern die Studienresultate damit zu tun haben, dass wir Mädchen als Vergleichsgruppe nehmen. Idealerweise müsste man jedem Kind seinen eigenen Entwicklungsrhythmus zugestehen.

«Die Unterschiede zwischen Mädchen und Buben sind kleiner als jene innerhalb der Geschlechtergruppen.»

Eine fast unlösbare Aufgabe für die Schule.
Hier möchte ich ein gutes Wort einlegen für die Schule, die ja unter extremem Druck steht. Sie muss alle integrieren, schwache Schüler aus anderen Kulturen, Flüchtlinge, jetzt kommen auch noch die ganzen Probleme durch Corona dazu. Darum gibt es diese «Aussortierung» der Kinder – dass man sie in Therapien schickt, ist eine Art von Komplexitätsreduktion. Heute bekommt ein Bub ADHS diagnostiziert, der vor 20 Jahren noch einfach als «sehr lebendig» galt. Andererseits haben wir hochbegabte Kinder. Die Gruppe von denen, die als normal gelten, wird immer kleiner. So werden Buben eben schneller auffällig. Und gelten als Bildungsverlierer. Die Geschlechterdiskussion ist heute extrem emotionalisiert.

Was für Lager bilden sich in dieser Diskussion?
Die einen sehen die Buben wie gesagt als Bildungsverlierer und sind der Meinung, man müsse jetzt extrem auf die Buben setzen. Die anderen sprechen sich für die Mädchen aus, sie finden, die Buben müssten nun halt etwas «untendurch», so wie es zuvor den Mädchen erging. Aber das finde ich eine sehr konservative Ansicht.

Professorin Margrit Stamm

Weiss, was Jungs brauchen, um sich ganzheitlich entwickeln zu können: Erziehungswissenschaftlerin Prof. Dr. Margrit Stamm.

Raffael Waldner

«Die Männer wurden zum schweigenden Geschlecht, sie getrauen sich gar nicht mehr recht zu sagen, was sie denken.»

Zu welchem Lager tendieren sie?
Ich sage: Man muss das differenzierter anschauen, und immer beide Geschlechter miteinbeziehen. Klar ist: Die Unterschiede zwischen Mädchen und Buben sind kleiner als jene innerhalb der Geschlechtergruppen. Es gibt viele sehr erfolgreiche Buben, zum Beispiel solche aus wohlhabenden Familien, die eine gute, besorgte Erziehung geniessen und sich konform verhalten. Hingegen wird ein Mädchen aus einer Familie mit wenig Geld und vielleicht aus einer anderen Kultur einen Schulabschluss unter seinen Fähigkeiten erreichen. Wenn man die Geschlechterdifferenzen überbewertet, übersieht man andere wichtige Faktoren. Ich bin gegen eine Ausspielung der Geschlechter. Wir wollen ja nicht einfach nur die Siegerinnen sein auf Kosten des männlichen Geschlechts.

Der Lehrer meiner Tochter hat einen Waldmorgen eingeführt, speziell auch für die Buben, damit sie ihren Bewegungsdrang ausleben könnten, wie er am Elternabend informierte.
Wenn ein Lehrer als Mann dieses Selbstbewusstsein hat, sich traut, etwas zu machen, das den Buben entgegen kommt, ist das eine ganz starke Botschaft! Er anerkennt dadurch den Bewegungsdrang der Buben als etwas Positives. Die Männer wurden zum schweigenden Geschlecht, sie getrauen sich gar nicht mehr recht zu sagen, was sie denken. Das Vorgehen dieses Lehrers würde ich als modellhaft bezeichnen. Auch, weil er sein Vorhaben klar kommunizierte. 

Warum finden sie das Kommunizieren so wichtig?
Wenn ein überzeugter Lehrer einen Waldmorgen veranstaltet, sein Vorhaben mitteilt und begründet, kommt das in den Familien ganz anders an, als wenn er den Eltern einfach kurz eine Anweisung geben würde, die Kinder angemessen anzuziehen. Denn noch immer finden viele Eltern: «Der Sohn darf dreckig werden, aber die Tochter, die ist eher eine Ruhige.» Oft sind es die Eltern, welche die Geschlechtsstereotypen verstärken, viel eher als die Schulen, die sind häufig moderner eingestellt. Von diesem Waldmorgen, einem eher auf Buben zugeschnittenen Programm, werden auch die Mädchen profitieren: indem sie aus ihrem Verhalten ausbrechen, Risikoverhalten zeigen und Grenzen überwinden können. Denn viele Mädchen sind heute überangepasst und voller Selbstzweifel.

«Fleissige Buben mit super Noten gelten als Streber. Cool ist der Klassenkasper, der gute Fussballer.»

Buben, die vielleicht eben weniger angepasst sind, ecken dafür aber eher an in der Schule.
Das ist ein Aspekt des Lehrplans 21. Er setzt stärker auf Sozialkompetenzen, ist ausgerichtet auf sozial kompetente, verständnisvolle und selbstlernfähige Kinder. Viele Buben haben einfach andere Lerneinstellungen. Buben und Mädchen unterscheiden sich grundsätzlich in der emotionalen Dimension. Mädchen haben einen Reifevorsprung, sie wissen sich auszudrücken, können sich besser kontrollieren und still sitzen, haben die bessere Selbstdisziplin. An diesem Ideal werden alle Kinder gemessen. Buben betreiben durchschnittlich einen minimaleren Aufwand für die Schule, sie konzentrieren sich stärker auf ihre Freizeit. Fleissige Buben mit super Noten gelten als uncoole Streber. Cool ist der Klassenkasper, der gute Fussballer. Bei Mädchen ist es umgekehrt: Sie bekommen soziale Anerkennung, wenn sie fleissig sind und gute Noten haben. Diese Geschlechtsstereotypen entstehen übrigens schon in der Familie – die Schule versucht sie dann zu korrigieren.

Tipps für Eltern von Töchtern haben sie uns schon in einem früheren Interview gegeben. Worauf sollten Buben-Mamas und -Papas achten?
Sehr viele Buben haben schon als Einjährige «männliche» Interessen, wollen bei jeder Baustelle stehen bleiben, Auto und Bagger gehören oft zu ihren ersten Wörtern. Wir wissen nicht, wie viel biologisch angelegt ist, aber es ist eine so vielfach berichtete Erkenntnis. Es entlastet Eltern, wenn sie das akzeptieren. Und dann überlegen: Was machen wir aus diesen Unterschieden? Sie können das verstärken, indem sie dem Sohn nur noch Bagger und Autos kaufen, sein Zimmer hellblau einrichten. Oder aber sich selbst etwas genauer beobachten: Wie verhalten wir uns als Eltern und Grosseltern? Unsere Aufgabe ist es, unsere Söhne fit zu machen für die Zukunft. In 20 Jahren werden sie eher androgyne Verpflichtungen haben. Wir sollten sie also nicht nur unterstützen in ihren Anlagen, sondern ihr Verhaltensrepertoire erweitern. Damit sie sogenannt «neue Männer» und fürsorgliche Väter werden.

Bub und Opa spielen Gitarre auf Boot

Achtung Vorurteile: Nicht jeder Bub spielt am liebsten Fussball – vielleicht macht ihm eine Jam-Session mit dem Opa viel mehr Spass.

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«Will der Sohn wirklich Fussball spielen, oder war der Gedanke einfach für uns Eltern naheliegend?»

Wie stärkt man denn so einen richtig schön «wilden Bub» in Fürsorge?
Auch wildere Buben haben eine fürsorgliche Seite. Wir Erwachsene haben immer unbewusste Erwartungen, unser Blick fokussiert darauf, was wir denken. Unser Sohn zum Beispiel war ein sehr wilder Bub, ein guter Fussballer, doch er hatte daneben immer eine dermassen sensible Seite, die aber fast untergegangen ist. Ich glaube, das ist das Erste, was wir tun können: Das eigene Kind oder die Schülerin oder den Schüler beobachten und schauen, wo er oder sie seine wilden und sensiblen Seiten hat. Und dort ansetzen und unterstützen. Manche Buben können extrem herzig mit kleineren Kindern umgehen. Ich habe zum Beispiel einen Jugendlichen in meiner Nachbarschaft, der ein toller Fussballer ist und das einem kleinen Mädchen jeweils ganz vorsichtig beibringt. Andere kümmern sich vielleicht rührend um die Grossmutter. Alles Dinge, die sich gut fördern lassen. Zum Beispiel nur schon dadurch, indem man solches Verhalten speziell lobt. Darauf achten, was man erst auf den zweiten Blick wahrnimmt, lohnt sich auch bei den Freizeitbeschäftigungen der Kinder.

Inwiefern?
Will der Sohn wirklich Fussball spielen, oder war der Gedanke einfach für uns Eltern naheliegend? Vielleicht würde er ja lieber ein Musikinstrument spielen. Es tut gut, als Eltern von seinen eigenen Vorstellungen zurückzutreten, den Sohn oder die Tochter anders zu erfassen. Auch in der Pubertät können sich ganz neue Seiten zeigen: Da werden die Buben häufig so männlich, setzen sich durch, werden diese coole Typen – und dann kommt zum Beispiel Corona, und die pubertären Buben entdecken ihre neu entwickelte Empathie und Fürsorge und engagieren sich in der Nachbarschaft.

Jungs am Raufen

Viele Jungs lösen ihre Konflikte anders als die meisten Mädchen – eher körperlich statt verbal. «Warum sollte das schlechter sein?», gibt Margrit Stamm zu bedenken.

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«Wir müssen keine neutralen Wesen schaffen aus Buben und Mädchen, sondern das Verhaltensrepertoire unserer Söhne und Töchter erweitern.»

Klingt gut! Aber wenn man überall T-Shirts mit «Woman Power»- und «WMN PWR»-Aufdrucken sieht oder Slogans wie «The Future is Female» liest – bei dem Hype um die Mädchen schluckt man als Buben-Mama schon mal leer.
Als reflektierende Mutter hat man Angst, der eigene Bub könnte Nachteile haben. So viele Mädchen werden zu angepassten Supermädchen erzogen. Aber man muss auch sehen, was ihnen fehlt in der Schule: Wenig Frauen schaffen es beruflich an die Spitze. All das Weibliche ist nicht nur erstrebenswert, damit einher geht auch ein geringes Selbstbewusstsein. Nehmen wir doch den Blick weg vom alleinigen Hype um die weiblichen, hin zu den positiven Eigenschaften der Buben. Die lösen halt Konflikte eher über «Kämpfli» oder Rangeleien. Warum sollte das so viel schlechter sein als das Vorgehen der Mädchen, die es über Gespräche, manchmal aber auch mit verbaler Gewalt wie Mobbing lösen? Wir sollten das Ideal des weiblichen Geschlechts überdenken. Und einen bewussten Umgang mit den Differenzen lernen. Es gibt nicht das richtige Mädchen und den richtigen Buben. Es gibt ja auch ganz scheue Buben, und deren Eltern sollten nicht das Gefühl haben, diese umerziehen zu müssen. Aber versuchen, ihnen ein weiteres Feld an Verhaltensmöglichkeiten aufzuzeigen, etwa einen Sport auszuüben. Und umgekehrt eben einem wilden Bub Fürsorge beibringen.

Was halten sie von genderneutraler Erziehung, die heute ja viele anstreben?
Wenig. Wir wissen nicht genau, wie stark biologische männliche und weibliche Eigenschaften angelegt sind. Geschlechtsneutrale Erziehung will alle in ein Schema drängen, eine Norm vorgeben, die für alle gelten soll. Den Gehalt und die Spannung der Gesellschaft machen die unterschiedlichen Geschlechter aus. Und dazu zähle ich nicht nur Frauen und Männer, da muss man auch die neuen Diskussionen miteinbeziehen. Wir müssen keine neutralen Wesen schaffen aus Buben und Mädchen, sondern ihnen eine gendersensible Erziehung angedeihen, das Verhaltensrepertoire unserer Söhne und Töchter erweitern.

Von Christa Hürlimann am 1. Januar 2021 - 07:09 Uhr