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Transgender-Kinder

Wenn der Sohn lieber die Tochter wäre

Dass Jungs gerne mal in Frauenkleidern herumlaufen oder Mädchen sich das Superman T-Shirt der Brüder überstreifen, kommt oft vor. Doch was, wenn der Wunsch weitergeht, als sich bloss mal schnell zu verkleiden?

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Boys dressing up and dancing

«Transidente sind Menschen, deren Identität nicht mit ihrem biologischen Körper übereinstimmt»: Ein kleiner Junge trägt ein Tutu (Symbolbild).

Getty Images

Über der flauschigen Trainerhose flattert ein pinkfarbenes Röckchen mit Rüschen, kombiniert mit einem Top wie bei einer Ballerina. Um die Augen glitzert Schminke, die Lippen knallrot gefärbt. Dazu bunte Federn im Haar und die viel zu grossen High Heels der Mutter an den Füssen. Eine Szene, die vielen Eltern bekannt vorkommen dürfte: Der Sohn stolziert frisch vergnügt mit einem breiten Grinsen in Frauenkleidern durch die Gegend.

Es ist nicht neu, dass sich Jungs in ihrer kindlichen Neugier auch für die Garderobe der Mädchen interessieren. In der spielerischen Umsetzung ist die temporäre Verwandlung zum anderen Geschlecht weit verbreitet, in etwa so, als würde man sich auch mal flugs in einen Cowboy oder Indianer hineinversetzen. Doch weshalb sorgen diese Metamorphosen bei den Buben immer wieder für Irritationen? Schliesslich käme auch keiner auf die Idee, sich wegen eines Mädchens in Hemd und Hose oder dem viel zu grossen Schlabberpulli aufzuregen.

Männer in Röcken stossen auf wenig Akzeptanz

Dass sich hier ein Graben der Geschlechter öffnet, hat kulturhistorische Gründe. Währenddem nach all den Jahren feministischer Bewegung sich niemand mehr an einer Frau im Hosenanzug echauffiert, im Gegenteil, dieser gehört geradezu zum Standard in der Business-Welt, sorgt ein Mann im Rock, es sei denn er trägt einen Kilt in einer schottischen Dudelsackformation, nach wie vor für Stirnrunzeln. Der Versuch, den Männerrock als fluffiges Freizeitgadget während den Sommermonaten zu etablieren, darf nach wie vor als gescheitert betrachtet werden.

Und so bleibt es dabei, nebst pastellfarbenen T-Shirts und den vielleicht etwas zu engen Jeans, stossen Männer in Kleidern, die wir bisher als feminin betrachteten, in der gesellschaftlichen Wahrnehmung auf wenig Akzeptanz. Ausgenommen davon dürften Akteure der internationalen Fashion-Szene sein, die mit ihren geschulten Augen regelmässig die Laufstege dieser Welt in Experimentierfelder der aktuellen Mode verwandeln.

Der richtige Umgang mit Unsicherheiten

Im 1997 veröffentlichten Film «Ma vie en rose» (Dt. «Mein Leben in Rosarot») realisiert der siebenjährige Ludovic, der gerne mit Puppen spielt und Kleider trägt, dass er viel lieber ein Mädchen sein möchte. Das Verlangen geht über das blosse Verkleiden hinaus, provoziert so die festgelegten Rollenklischees der Eltern und sorgt schliesslich, zumindest temporär, für eine soziale Ausgrenzung der ganzen Familie.

Auch im realen Leben sind Mütter und Väter vermehrt einem solchen Szenario ausgesetzt. Was tun, wenn der Wunsch des Sohnes weiter geht, als bloss mal ein Kleidchen zu tragen? Wenn der Sprössling eigentlich viel lieber ein Mädchen wäre, als im Korsett des Knaben zu stecken? Oder die Tochter spürt, eigentlich ein Junge zu sein? Auch wenn dabei wohl niemand von den Nachbarn oder Freunden mehr angefeindet werden dürfte, eine Unsicherheit im Umgang mit dem Kind bleibt.

BPGAJ2 GEORGES DU FRENSNE MA VIE EN ROSE (1997)

Viele Kinder äussern den Wunsch, einmal die Kleider des anderen Geschlechts zu tragen: Szene aus dem Film «Ma vie en rose».

Alamy
Keine Spielerei sondern existenzielles Bedürfnis

«Es ist in dieser Situation wichtig, dass Eltern allen Entwicklungsmöglichkeiten gegenüber offen sind. Wenn das Bedürfnis des Kindes, als Angehörige/r des anderen Geschlechts akzeptiert zu werden, permanent besteht, sollten die Eltern Fachleute aufsuchen, mit denen sie planen, wie sich das Kind, entsprechend seiner Identität, in der Gesellschaft bewegen kann», rät Udo Rauchfleisch, Klinischer Psychologe und Psychotherapeut, der sich in den Themen Transidentität und Transsexualität spezialisiert hat. Oft würde das Kind keine besondere therapeutische Begleitung brauchen, primär ginge es um die Beratung der Eltern.

Alle Kinder würden dann und wann den Wunsch äussern, auch einmal die Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen oder mit dem «typischen» Spielzeug des anderen Geschlechts spielen. «Bei transidenten Kindern geht es aber nicht um diesen spielerischen Aspekt, sondern es ist ihnen ein geradezu existenzielles Bedürfnis», so der emeritierte Professor der Universität Basel. 

Transidente sind Menschen, deren Identität nicht mit ihrem biologischen Körper übereinstimmt, die sich nicht dem ihnen von Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen. «Es ist eine Variante der Identitätsentwicklung und hat nichts mit Gesundheit oder Krankheit zu tun», so Rauchfleisch.

«Wir sprechen nicht von Geschlechtsumwandlung, sondern von einer ‹Angleichung an das andere Geschlecht›.»

Prof. Dr. Udo Rauchfleisch

Doch wie können Eltern erkennen, dass ihr Kind eigentlich das andere Geschlecht leben möchte? «Es ist vor allem der immer wieder geäusserte Wunsch dieser Kinder, sich so kleiden und so verhalten zu wollen wie die Kinder des anderen Geschlechts. Dies empfinden sie als selbstverständlich. Ob es tatsächlich um Transidentität geht, stellt sich dann mit der Zeit heraus», sagt Rauchfleisch. Eine Überzeugung, die man schon bei kleinen Kindern finden könnte. «Das ist eine Tatsache, an die sich viele erwachsene Transidente aus der eigenen Kindheit erinnern können.»

Für den Experten sind der Wunsch des Kindes und die medizinischen Möglichkeiten ausschlaggebend für die Einleitung hormoneller und chirurgischer Massnahmen. In der Schweiz bestehen keine rechtlichen Regelungen bezüglich Hormontherapie und operativer Angleichung für Kinder und Jugendliche. Dies kann grundsätzlich schon vor dem 18. Lebensjahr erfolgen. Ärzte geben aber gegengeschlechtliche Hormone im Allgemeinen erst ab dem 16. Lebensjahr ab. «Kurz vor oder mit Beginn der Pubertät können Pubertätsblocker eingesetzt werden», erklärt Rauchfleisch. Mit ihrer Hilfe wird den Kindern das Durchlaufen der Pubertät erspart, also Stimmbruch und Beginn des Bartwuchses bei den Jungen sowie Brustwachstum und Menarche bei den Mädchen.

Therapie beginnt erst mit 16 Jahren

«Man gewinnt so Zeit vor dem Entscheid für oder gegen die körperliche Angleichung an das andere Geschlecht. Eine solche hat übrigens nichts mit einer Geschlechtsumwandlung zu tun und wird im Kindesalter noch nicht durchgeführt. Wenn sich dann mit 16 Jahren das Kind für diesen Weg entscheidet, erhalten Trans-Jungen (biologische Mädchen) Testosteron und Trans-Mädchen (biologische Jungen) Östrogene.»

Für Rauchfleisch erscheint es sinnvoll, dass die hormonelle und die chirurgische Anpassung erst nach dem 16. Lebensjahr erfolgt, da ein Teil der Jugendlichen zwischen dem 13. und dem 16. Lebensjahr ihre Meinung noch ändern könnte. «Ausserdem sind die Jugendlichen mit 16 Jahren und älter besser in der Lage, die Entscheidung für oder gegen die irreversiblen Änderungen des Körpers zu treffen.» Pubertätsblocker und Hormone würden keine speziellen Risiken in sich bergen, ist der Psychotherapeut überzeugt.

«Transgender wird im Allgemeinen als Oberbegriff für die Menschen verwendet, die sich nicht dem ihnen von Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen.»

Prof. Dr. Udo Rauchfleisch
Betroffene trauten sich nicht, mit Eltern zu sprechen

Ein Fall in den USA sorgte jüngst für Aufsehen. Dabei ging es um den siebenjährigen James, der, zumindest gemäss der Mutter, gerne ein Mädchen sein möchte. Die Kinderärztin liess ihn daraufhin Kleider anziehen und wies die Schule an, ihn neu Luna zu nennen. Gar nicht einverstanden damit ist der Vater von James, der getrennt von der Familie lebt. Er beschuldigt seine Ex-Frau, den Sohn bewusst in die Rolle als Mädchen zu drängen und ihn zu manipulieren. Ein Gericht in Dallas musste sich schliesslich mit dem Fall befassen und kam zum Schluss, dass sich die Eltern das Sorgerecht zu teilen haben und somit beide Partner gemeinsam über die Zukunft von James entscheiden müssen.

Für Rauchfleisch leider kein Einzelfall, ähnliche Geschichten würde man auch in der Schweiz und in Deutschland finden. «Es ist eine unheilvolle Situation, wenn ein Trans-Kind zwischen die Mahlsteine sich bekämpfender Eltern gerät. Dann hilft mitunter nur die Meldung bei der Kesb, die dann eine Abklärung des Kindes in die Wege leitet.» Bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) der Stadt Zürich hat man noch keine grosse Erfahrung mit solchen Fällen. «Mir ist kein Fall mit Transgender-Kindern bekannt. Eine kurze interne Umfrage hat aber ergeben, dass wir einmal einen Fall mit einem Transgender Kind hatten. Dabei mussten wir jedoch nichts entscheiden», sagt ihr Präsident, Michael Allgäuer, auf Anfrage.

Ob es heute mehr Transgender-Kinder gibt als früher, kann auch Rauchfleisch nicht exakt sagen. «Ich kenne keine verlässlichen Zahlen. Aber es scheint, als gäbe es heute deutlich häufiger als früher Kinder, die mit dem Gedanken spielten, im «falschen Geschlecht» zu stecken. Dies entspricht in etwa den Erzählungen erwachsener Transidenter, die sich daran erinnern können, einen solchen Wunsch auch schon als Kind gespürt zu haben. Nur trauten sie sich damals noch nicht, darüber mit ihren Eltern zu sprechen und konnten selbst nicht genau verstehen, was diese Gefühle bedeuten sollten.»

Als Ergänzung und zur weiterführenden Lektüre: Udo Rauchfleisch (2019): Anne wird Tom. Klaus wird Lara. Transidentität/Transsexualität verstehen. 3. Aufl. Patmos, Ostfildern.

Von Simon Beeli am 13. Dezember 2019 - 17:09 Uhr