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  4. Sex bei Netflix – 365 Days, Normal People: Porno oder nichts

Preise nicht mehr nach Geschlecht getrennt

An der Berlinale wird umgedacht – aber ist das fair?

«Die Auszeichnungen im Schauspielfach nicht mehr nach Geschlechtern zu trennen, ist ein Signal für ein gendergerechtes Bewusstsein in der Filmbranche», erklären die Leiter der Berlinale in einem offiziellen Statement. Wir finden: nett gemeint, aber leider nicht so ganz durchdacht.

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Szene aus der Serie Normal People

Schön normal: Die Beziehung und der Sex zwischen Connell und Marianne in der Serie «Normal People» (jetzt erhältlich über UPC).

via UPC Schweiz

Realität. Echte Beziehungen. Echte Frauen- und Männerfiguren, frei von Klischees. Das wollen Zuschauende heute sehen, sagen Studien. Und dann wird so ein Softporno auf Netflix zum Sommerhit … Ein Erklärungsversuch über die Entgrenzung von Pop und Pornografie.

Lange mit dem Film «365 Days» (2020) aufhalten brauchen Sie sich nun wirklich nicht. Die knapp zwei Stunden Spielzeitlänge sind Zeitverschwendung –  und auch in diesem Text versuche ich mich mit Ausführungen zu dessen Inhalt kurz zu halten. Also: Minute 67, Minute 77 und Minute 92. Das sind die Sexszenen, und damit die wenigen – und wenn überhaupt – sehenswerten Momente in dem polnischen Softporno, made by Netflix.

Denn abgesehen davon, dass der Film Gewalt glorifiziert und das Stockholm-Syndrom (Entführer*in und Entführte*r entwickeln ein positives Verhältnis zueinander) romantisiert, ist er einfach sehr schlecht gemacht. Schlecht gespielt. Schlechte Musik. Plus: Die weibliche Hauptfigur erfüllt diverse sexistische Stereotypen.

Nun könnte man denken: «Typisch!» Wieder mal ein verunglückter Versuch eines männlichen Regisseurs, den Charakter und die Lust einer Frau abzubilden. Typisch männlicher Blick (Male Gaze). Könnte man – würden sich für den Film nicht vor allem Frauen verantwortlich zeichnen. Die Regie: Barbara Białowąs. Das Buch, dem der Film zugrunde liegt: ebenfalls geschrieben von einer Frau (Lorna Scobie).

Dabei ergaben doch Studien, dass Zuschauer, und vor allem Zuschauerinnen, mittlerweile mehr von popkulturellem Genuss erwarten. Keine bis zur Unkenntlichkeit hochgeschliffenen Charaktere. Vielmehr mögen sie das Rohe, Unpolierte, das Zulassen von Unbeholfenheiten. Das Echte. An und zwischen den Protagonist*innen.

Wie kann es denn möglich sein, dass so etwas wie «365 Days», dessen Handlung und Produktion an einen ganz klassischen, einfachen Porno erinnern, nun so grossen Anklang findet (wochenlange Nummer-eins-Platzierung auf Netflix)? Ein Erklärungsversuch – via der Beantwortung der Fragen: Was ist der Male Gaze, wie problematisch ist er, und ist der Female Gaze dann die Lösung?

Vor allem nackt – bis 40

Der besitzergreifende männliche Blick wurde in den 1960er- und 1970er-Jahren zum Thema. Die Theoretikerin Laura Mulvey prägte den Begriff Male Gaze. Männer schauen, Frauen werden angeschaut. Sie dachte dabei vor allem an den Film. Den Noir-Thriller, in dem die Heldin von den Regisseuren als ein mysteriöses und passives Objekt männlicher Begierde inszeniert wurde.

Auch dieses Jahrhundert brachte einiges an Material zur Veranschaulichung des Male Gaze hervor. «The Wolf of Wall Street» (2013) beispielsweise. Frauen treten in dem Film meist nackt auf. Nur Margot Robbie, alias Naomi, alias die zweite Ehefrau von Leonardo DiCaprios Alter ego Jordan Belfort, kommt nicht nur dann ins Spiel, wenn es gerade um Sex geht, und darf ab und zu sogar was sagen.

Sowieso hatten Frauen vor allem immer toll auszusehen, während Männer auch mal Seltsames in die Kamera halten durften. Und während es für Männer nie an Rollen mangelte, waren Frauen jenseits der vierzig nicht mehr interessant. Wegen der Falten. Wegen der Schwerkraft, die uns ereilt. Unsexy.

Unbefriedigende Aussicht

Über die Repräsentation von Frauen und Mädchen vor der Kamera hat es schon diverse Studien gegeben. Keine von ihnen ist aus unserer Sicht befriedigend: Männer sind meist doppelt so häufig zu sehen, haben deutlich mehr Redeanteil und einflussreichere Rollen. Schauspielerinnen hingegen werden auf ihr Aussehen reduziert und stereotyp dargestellt (Quelle: Plan International).

Das Geena Davis Institute on Gender in Media berichtet ausserdem, dass es in 15 Prozent der Filme Einstellungen gibt, in denen die Kamera langsam über Frauenkörper schwenkt (Male Gaze). Männerkörper werden nur in vier Prozent der Filme so gezeigt. Der Redeanteil männlicher Figuren ist mit 67 Prozent doppelt so hoch wie der Redeanteil der Frauenfiguren (33 Prozent).

Und Männer werden häufiger als Führungspersönlichkeiten dargestellt (42 Prozent im Vergleich zu 27 Prozent unter den Frauen). Nehmen Frauen Führungsrollen ein, werden sie dabei ebenfalls häufiger mit aufreizender Kleidung, halb nackt oder nackt dargestellt als ihre männlichen Äquivalente. Im Gegenzug werden Frauen in Führungspositionen als härter arbeitend (83 Prozent zu 73 Prozent) und deutlich intelligenter (81 Prozent im Vergleich zu 62 Prozent) als ihre männlichen Kollegen dargestellt.

Auch Frauen fallen die Augen aus dem Kopf

Der Male Gaze funktioniert, abgesehen vom Film, auch in anderen Bereichen. In der Musik. In der Kunst. In der Fotografie. Im echten Leben. Männer schauen, Frauen werden angeschaut. Aber – und das macht die Sache noch etwas komplizierter: Er funktioniert auch durch die Augen der Frau.

In der ersten Szene von Sofia Coppolas «Lost in Translation» (2003) sieht man fünf Minuten lang ausschliesslich Scarlett Johanssons Hintern. Bella aus «Twilight» (geschrieben und 2008 verfilmt von Frauen) will von Edward so unbedingt begehrt werden, dass sie sich von ihm sogar ins Jenseits beissen lassen würde. Hermine Granger erlebt ihren ersten tatsächlichen Moment grösster Aufmerksamkeit erst, als sie in ein Ballkleid gesteckt und ihre Haare gebändigt werden, weswegen Ron Weasley fast die Augen aus dem Kopf fallen («Harry Potter and the Goblet of Fire», 2000).

Und da wäre eben auch «365 Days». Der Entführungs-er-bedrängt-sie-einfach-so-lange-bis-sie-endlich-ja-sagt-Porno in Spielfilmlänge stammt aus der Feder einer Frau. In all diesen Momenten, die uns auf der Leinwand und im echten Leben Gänsehaut («365 Days» ausgenommen) verursachen, wird klar: Es sind nicht nur die Männer, die uns als Objekte denken; wir selbst tun es. Einen Female Gaze als einfachen Umkehrschluss zum Male Gaze kann es deshalb nicht geben.

Hexen, Frigide, Hysterikerinnen – und viele mehr

Auch Filmemacherinnen und Zuschauerinnen sind selbst anfällig für Vorurteile. Was wir schön finden oder begehren, ist in vielerlei Hinsicht kulturell überformt. Ein Denken, das noch immer in uns widerhallt, egal, welchem Geschlecht wir uns zugehörig fühlen. Ein Denken, das Frigide und Hysterikerinnen hervorgebracht hat, Hexen, Naivchen, Tussis und Kampflesben, Promqueens und Centerfolds, Hausmütterchen und Bombshells.

Der Begriff «bombshell» (attraktive, sexuell aktive Frau) wurde im Übrigen von Schauspielerin Jean Harlow amtlich gemacht: Es war der Titel einer ihrer Filme (1933), der davon erzählt, wie eine Schauspielerin versucht, ihrem Erotik-Image zu entfliehen. Offenbar war damals schon die Vorstellung suspekt geworden, dass das Bild eines weiblichen Körpers «nur» dazu dienen könnte, beim Betrachter Lust zu erzeugen. In den Fünfzigern erlebte die Bombshell dann jedoch eine Blüte, arbeitete sich im Fernsehen ab – in den Neunzigern dann auch genannt: Baywatch-Babe – und bespielte das Grenzgebiet von Pop und Porno.

Dann kamen Portale wie Pornhub. Das hat viel libidinöse Energie aus Filmen abgezogen. Einfach weil sie dort gar nicht mehr gebraucht wurde. Gab es jetzt schliesslich alles gratis im Internet. Und was es dort zu sehen gibt, sehen sich Frauen zwar auch an – aber Pornografie bleibt mehrheitlich von Männern gemacht und ist dazu da, um männliche Fantasien zu bedienen. Die Vermeidung von Objektifizierung war dabei bisher nicht gerade eines der Kernziele.

Ohne Porno-Brille

Produktionen wie die Serie «Normal People» (2020) stellen darum einen mehr als willkommenen und echten Kontrast dar zu etwas wie «365 Days». Sie zeigen kein weiteres Extrem oder Klischee, sondern die Beziehung zwischen zwei Menschen, halt einfach in «normal». Mariannes (Daisy Edgar-Jones) erstes Mal etwa ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man jemanden um Zustimmung bittet.

«Das Schreiben von Sexszenen ist vergleichbar mit dem Schreiben von Dialogen.»

Sally Rooney, Autorin des Buches «Normal People»

«Ist das okay?», fragt Connell (Paul Mescal), während er sich über sie beugt. «Wenn du aufhören willst oder es wehtut, können wir aufhören.» Und auch mal keine Lust zu haben, ist in Ordnung. In einer Szene beginnen sich Connell und Marianne energisch im Bett zu küssen. Aber sie bekommt Bauchkrämpfe wegen ihrer Periode, und anstatt sie zu drängen, macht er ihr einen Tee. 

Ausgewogener Blick auf Sex

Sexszenen in Film und Fernsehen lassen normalerweise oft aus, wie Menschen sich ausziehen. Wie sie manchmal etwas umständlich mit einem Bein aus der Hose hüpfen – wie Marianne –, mit dem Kopf in einem zu engen Unterhemd stecken bleiben oder manchmal peinlich berührt dastehen, wenn sie nur noch in Unterwäsche bekleidet sind. Umständliche Positionswechsel werden ebenfalls gern weggeschnitten.

Vermutlich werden Produktionen wie diese nicht verhindern, dass es eine Fortsetzung von «365 Days» gibt (die ebenso erfolgreich sein wird wie ihr Vorgänger). «Normal People» verhindert nicht, dass die Geschichte eines superreichen Beaus, der eine hübsche Frau via Privatjet in seine Villa entführt, auf viele sexy wirkt. Die Fantasie fragt nicht nach Wirklichkeit. Aber wir – die Zuschauerinnen – fragen nach ausgewogener Darstellung von Liebe, Sex und Beziehungen. Es gibt schliesslich nicht entweder Porno oder gar nichts. Und wir – wieder die Zuschauerinnen – können es kaum erwarten.

Von Rahel Zingg am 17. August 2020 - 08:30 Uhr