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Eskapismus

Wann die Flucht aus der Realität bedenklich wird

Mit Musik, Smartphone oder Konsolen für einen Moment der Realität entfliehen? Dr. Andreas Hagemann klärt im Interview über eskapistisches Verhalten auf und verrät, ab wann dieses bedenklich wird.

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Viele neigen derzeit zur Flucht aus der Realität.

Getty Images

Themen wie Krieg, Inflation und Corona-Pandemie haben unseren derzeitigen Alltag fest im Griff. Viele neigen durch die Negativ-Schlagzeilen zur Flucht aus der Realität - auch Eskapismus genannt. Die ist jedoch nur bis zu einem gewissen Grad gesund. Dr. Andreas Hagemann, Psychiater und Ärztlicher Direktor der Privatklinik Merbeck sowie der Röher Parkklinik, klärt im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news auf.

Was ist Eskapismus?
Dr. Andreas Hagemann: Corona-Krise, Ukraine-Krieg, Inflationsgefahr - die Flut an Katastrophen und Hiobsbotschaften lässt viele von uns regelrecht verzweifeln. Wer träumt da nicht von einer besseren «heilen» Welt? Eskapismus (englisch: to escape = entfliehen) bezeichnet die Flucht aus der Realität. Statt sich den realen Gegebenheiten zu stellen, suchen Menschen ihr Glück in einer imaginären Scheinwirklichkeit. Die Ursachen sind vielfältig: Oftmals sind psychische Probleme Auslöser, etwa Traumata, Konflikte, Burnout oder Depressionen.

Wie äussert sich eskapistisches Verhalten?
Betroffene blenden mehr und mehr die alltäglichen Negativmeldungen und Probleme aus. Um Ablenkung und Zerstreuung zu finden, begeben sie sich mental in eine fiktive «heile» Welt, in der sie sich stark und wirkmächtig fühlen. Damit verbunden sind Symptome wie Isolation und Realitätsverlust. Auch Minderwertigkeitsgefühle lassen manche Menschen permanent und exzessiv Ablenkung und Zerstreuung suchen.

Wann wird Eskapismus gefährlich und sollte psychotherapeutisch behandelt werden?
Ob Fantasy-Spiele, TV-Soap oder Romanschnulze - ein wenig aus der Realität mit seinen Problemen zu fliehen, ist grundsätzlich alles andere als schädlich. Selbst wenn dabei die Stunden verfliegen und wir die Gegenwart vergessen, ist das kein Grund zur Sorge. Im Gegenteil: Es kann helfen, Ängste und Spannungen abzubauen und negative Gefühle auszugleichen. Bedenklich wird es, wenn die Flucht in eine andere «bessere» Gegenwart zunehmend das Denken und Handeln bestimmt. Vor allem, wenn dabei die Wirklichkeit verleugnet und verdrängt und/oder Aufgaben des täglichen Lebens, Ziele und Pläne vernachlässigt werden. Spätestens, wenn ernsthafte Beeinträchtigungen des «realen Lebens» stattfinden, wenn reales und fiktives Selbsterleben immer wieder miteinander kollidieren, sollten sich Betroffene Hilfe suchen. Akut behandlungsbedürftig wird es, wenn Alkohol oder Drogen hinzukommen, um aus der Realität zu flüchten.

Wie kann man sich vor Eskapismus schützen?
Wichtig ist es, Distanz zu den negativen Ereignissen und Entwicklungen zu bewahren. Schliesslich kann selbst in katastrophalen Dauerkrisen niemand permanent trauern und mitleiden. Deshalb ist es ratsam, den täglichen medialen Konsum von Negativmeldungen und Berichten in TV, Zeitungen und Internet strikt zeitlich einzugrenzen.

Hinterfragen Sie Ihr Surfverhalten, insbesondere in sozialen Netzwerken. Welches Interesse haben soziale Netzwerke? Sie möchten, dass Sie möglichst lange auf ihren Seiten verweilen, um die so gewonnenen Daten und Werbeeinnahmen für sich zu nutzen. Dafür wird eine Blase (engl. Bubble) um Sie herum erzeugt, die die von Ihnen gesehenen Inhalte immer wieder in oft nur leicht veränderter Form präsentiert. Dadurch werden einmal erzeugte Meinungen und Ansichten immer wiederholt und in einem in sich geschlossenen System verstärkt, so dass negative Inhalte nicht mehr hinterfragt werden und plötzlich zur Gewissheit werden. Sich aus diesen selbstverstärkenden Negativspiralen zu befreien, wird mit zunehmender Verweildauer immer schwieriger.

Auch über das sonstige Freizeitverhalten sollte man sich einen zeitlichen Überblick verschaffen. Dafür am besten eine Woche lang detailliert aufschreiben, wie oft und wie lange Sie bestimmte Tätigkeiten ausüben. Gegebenenfalls diese Zeiten erheblich reduzieren und sich feste «Auszeiten» dafür nehmen.

Dr. Andreas Hagemann ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Ärztlicher Direktor der auf Burnout-Störungen und Depressionserkrankungen spezialisierten Röher Parkklinik in Eschweiler bei Aachen sowie der Privatklinik Merbeck im nordrhein-westfälischen Wegberg. Schwerpunkt dieser Einrichtung ist die multimodale psychosomatische Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen und Schmerzstörungen.

Von spot am 25. Mai 2022 - 21:00 Uhr