Ich bekomme «Die Leiden des jungen Werther» nicht mehr aus dem Kopf. Nur, dass Goethes Werther in diesem Vergleich (der hinkt genauso wie ich im Moment) kein suizidaler Liebeskranker ist. Ich bin der leidende Werther – im Startbereich des Greifenseelaufs 2019. Vor mir liegt ein Halbmarathon – stramme 21 Kilometer. Block 9 (wir sind die Langsamen, die das Feld straff von hinten aufrollen) wärmt sich zu 90ies Pop auf. Die Zuschauerreihen haben sich schon gelichtet. Wir sind nicht mehr so spannend wie die Elite, die am sonnigen 21. September um die Schweizermeisterschaft gekämpft hat.
Mit einem leicht mulmigen Gefühl im Bauch hopse ich mit hunderten anderen Hobbyläufern herum. Wie Jane Fonda in den 80ern (minus das Outfit. Wir Jogger ... nun, einen Design-Preis gewinnen wir nicht). Dann ist Start. Und wie Xavier Naidoo (Song 12 auf meiner Playlist) es einst formulierte: «Dieser Weg wird kein leichter sein».
Kilometer 1
Ich bin wie Leo und Kate – «I’m the King of the World». (Mir ist klar, dass die auf der Titanic sassen. Aber: Hier spielen Wettkampf-Endorphine mit. Man ist nicht NUR bei Sinnen).
Kilometer 2
Ich bin eine V2-Rakete auf dem Weg zum Mond. Viel zu schnell unterwegs. Ich zünde die Bremsraketen und lasse mein Lunar-Modul landen. Meine Beine sind gerade ähnlich fragil. Dabei ist «Fly Me To The Moon» erst Song 24 auf der Playlist.
Kilometer 3
«Don’t stop me now, I’m having such a good time.»
Kilometer 4
ICH HABE DIE ERSTEN LEUTE ÜBERHOLT. ICH WIEDERHOLE: ICH HABE DIE ERSTEN ÜBERHOLT.
Kilometer 5
Eine Frage, die mich einige Minuten meines Lebens gekostet hat, darf ich nun für alle verlässlich beantworten: Es gibt WCs auf der Rennstrecke. «Under Pressure» (Queen macht mich beim Joggen glücklich) bekommt hier eine neue, völlig unmusikalische Dimension.
Kilometer 6
Das läuft wie geschmiert. Und ich habe sogar Spass. WAS IST MIT MIR?
Kilometer 7
Ich schalte auf Angry-Taylor. Ich bin kein Swiftie. Aber ich mag die wütende Schlangen-TayTay. «Look What You Made Me Do» sollte später kommen. Wenn ich sauer auf mich werde, weil ich mir das antue. Aber ich bin nicht sauer. Ich bin der Picknicker und mach nur den Beat dicker.
Kilometer 8
Ab wann gibts eigentlich die mit dem Startgeld versprochenen Bananen?
Kilometer 9
Banana?
Kilometer 10
Wie nehme ich einen Becher Wasser, einen Becher isotonisches Sportgetränk, ein Stück Banana und den wassergetränkten Kühlschwamm gleichzeitig in zwei Hände?
Kilometer 11
Ich weiss es nun: Gar nicht. Das isotonische Getränk landet im Sport-BH. Ich bin einfach zu gierig.
Kilometer 12
Ich rolle das Feld von hinten auf. In «Walk the Line» beschreibt Reese Witherspoon als June Carter den Cash-Sound als «beständig wie ein Zug, scharf wie ein Rasierer». Ich bin dieser Zug.
Kilometer 13
Mehr als die Hälfte liegt hinter mir. Ich fühle mich wie eine Antilope, die elegant und rasend schnell durch die Savanne hüpft. Ob der Mann, der meinen Zieleinlauf filmen soll bei diesem ENORMEN Tempo rechtzeitig im Ziel ist? Meine Rennbilder sprechen danach leider eine andere Sprache: Ich pflüge mich wie ein Bison durch die Steppe.
Kilometer 14
Ich singe (ich entschuldige mich bei allen!). Aber Spice Girls! Und: Ich habe gelesen, dass das Tempo stimmt, wenn man sich noch unterhalten kann. Und weil ich allein unterwegs bin, muss ich zwecks Tempo-Drosselung (vgl. KM 13) halt singen. Pardonnez-moi.
Kilometer 15
Meine Renn-App sagt mir, dass ich im Durchschnitt so um die 6:40 Minuten für einen Kilometer brauche. ICH WAR NOCH NIE SO SCHNELL! Ich bin eine Antilope. Ich bin eine Antilope. Ich bin eine Antilope.
Kilometer 16
David Bowie. Es gibt nur einen. And he’s sitting in a tin can.
Kilometer 17
Nach 17 Kilometern seien mir fünf existenzielle Fragen erlaubt:
1. Wieso will mich Carly Rae Jepsen vielleicht anrufen? (Notiz an mich: Playlist überarbeiten)
2. Mir tut erstaunlich wenig weh. Sind meine Waden aus Stahl?
3. Ist das Seitenstechen? IST DAS SEITENSTECHEN?
4. Ich muss lächeln. Die Sanitätsdamen gucken so lieb.
5. Jogging-Halbmarathon-Selfies: Nein. Wirkt irr.
Kilometer 18
The Clash, «Should I stay or should I Go?». Blöde Frage, ganz ganz blöd. Die NASA hat Starts auch nur dann abgebrochen, wenn viel im Argen lag. Und sooooo schlecht gehts mir nun wirklich nicht. Next.
Kilometer 19
Noch zwei Kilometer? Nur noch zwei? «Every Breath You Take, Every Move you make» bringt mich näher ans Ziel. Reserve mobilisieren. Wiedereintritt vorbereiten (ich sollte vor langen Jogging-Ausflügen keine Bücher über die Mondlandung lesen.)
Kilometer 20
Da war ein Schild. Es sagt, es geht gleich bergauf. Ich möchte nicht ausfällig werden. Aber Kinders, das ist nun wirklich unhöflich. Ich kanalisiere meine Wut mit Eminem. Der ist auch immer wütend.
Kilometer 21
Ich bin der Zug. Ich bin der Zug. Ich bin der Zug. Endspurt.
ZIEL
«Ich hab heute nichts versäumt, denn ich hab nur von dir geträumt»: ZIEL!!!!!!! Du bist ein guter Typ, ICH LIEBE DICH!
Epilog
Ich habs geschafft!! Stolz mischt sich mit Schweiss und isotonischem Sportgetränk. Ich hätts nicht gedacht. Mein Knie zwickt. Ich trinke einmal mein Körpergewicht. ABER ICH HABS GESCHAFFT. Wer jetzt denkt, pffff, den Halbmarathon mach ich vor dem Frühstück, dem gratuliere ich von Herzen. Ich könnte das nicht. Zehn lange Jahre hab ich vor allem mein Sitzfleisch trainiert. Bis mich im Frühjahr 2019 die Redaktions-Kolleginnen zum Sport verknurrt haben (hello, #StyleMuscleHustle). Ich hab geschwitzt, genervt («Mami muss erst Joggen, dann können wir in die Badi»), zwischendurch gelitten. Ich hatte Freude und Schmerzen – und hab jetzt mein Ziel erreicht. Das ist ein gutes Gefühl. Oder wies die Jackson 5 1969 formuliert hatten: «I Want You Back» – du gutes Gefühl.
Was jetzt?
In manchen Dingen bin ich ein simpel gestricktes Wesen: Ich brauche ein neues Ziel, sonst hör ich wieder auf. Wie weiter? Wo laufen? Help! Und:
1. Playlist überarbeiten (Carly Rae Jepsen, es tut mir leid)
2. Den Laufstil verbessern (mehr Antilope, weniger Bison). Google nach Tipps fragen.
3. Muskeln aufbauen. Google sagt, dann tun die Knie weniger weh.
4. Hübsche Jogging-Klamotten finden.