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  4. Angst, was zu verpassen: FOMO ist nach der Pandemie zurück

Ist es verwerflich, den Lockdown zu vermissen?

Fuck, ich habe wieder Angst, was zu verpassen

Alle tanzen wieder besoffen vor Glück (oder so) auf Dachterrassen und liegen ihren unzähligen Cliquen in den Armen. Ich liege immer noch im Bett. Und vermisse plötzlich Dinge, die ich gar nicht will und mag. Die gute alte prä-pandemische FOMO, die «Fear of missing out», trifft mich wieder schlagartig. Es war so schön, als man nichts konnte. Und durfte. Oder?

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Jaja, es haben immer alle mehr Spass als man selber.

Getty Images/Cultura RF

Letztens war ich müde. Wie so oft. Ich war campen, es hat nur geregnet, alles war klamm. Endlich lag ich in meinem Bett. Da war alles trocken und warm, das Klo ums Eck. Decke über den Kopf, Netflix berieselte mich, Glückseligkeit stellte sich ein. Dann bekam ich die sozialen Medien in die Finger und die demonstrierten mir fast provokant, dass meine Insta-Bubble vor lebensbejahender Euphorie platzte. Da wurde auf Dachterrassen geraved, taumelnd angestossen, der Strobo zuckte als läge er in den letzten Atemzügen. Von wegen. Es wird wieder gefeiert. Endlich erlebt man wieder was, schreien mir die Instagram-Stories entgegen. Ja, klar: alle, ausser mir.

Ich rave gar nicht gerne. Also eigentlich rave ich nie. Und deswegen fühle ich mich schlecht. Vor allem, weil ich genau jetzt nicht rave. Jetzt, wo man könnte. Ich liege wieder nur im Bett wie damals (in diesem anderen Leben), als man Lockdown-bedingt nirgends hinkonnte und niemanden sehen sollte. Da ist sie wieder, diese FOMO, die nagende «Fear of missing out», die mich Dinge wollen lässt, die ich eigentlich verabscheue. Es lastet ein hoher Erlebnisdruck auf unseren Pandemie-geschwächten Schultern. «Wenn man wieder kann» hat man viel gesagt und sich wahnsinnig viel vorgenommen, was man jetzt machen wollte und sollte.

Es ist komisch: Ich war zufrieden, als alle andern es nicht waren

Als alle Panik vor der Pandemie hatten, ihre Freunde und Familie so sehr vermissten, ihre soziale Feierwut nicht ausleben konnten, war ich eigentlich ganz zufrieden. Ich neige dazu, viel zu jammern, habe dann aber weniger gejammert. Glaube ich. Weil alle die gleiche Ausgangslage hatten. Ich war glücklich in meiner kleinen Welt mit den Premiumkontakten. Ohne die Termine. Plötzlich frage ich mich: Habe ich einfach kurz vergessen, wie lahm mein Leben tatsächlich ist? Wie langweilig ich bin?

War das alte Normale, das kurz vom neuen Normalen abgelöst wurde, tatsächlich spektakulärer als das neue neue Normale? Ich mochte das neue Normale ohne dieses lästige Teufelchen am Ohr, das einem zuflüstert, umtriebig und gut vernetzt sein zu müssen. Wer jetzt immer noch gern um neun die Jalousien runterlässt, ist irrelvant. Oder schlichtweg nicht gefragt. Der volle Terminkalender als Statussymbol nervt.

FOMO haben nur die Schwachen, heisst es

Dabei trifft die Angst, was zu verpassen, nicht ausschliesslich die Insta-Generation: Wie die Washington State University herausfand, ist FOMO vom Alter unabhängig. Stattdessen eint die Unglücklichen laut der Studie vor allem ihr geringes Selbstbewusstsein und die Tatsache, sehr ungnädig mit sich zu sein, wenn sie etwas falsch machen oder durch ein Tal der Niederlagen robben. Was ausserdem Sinn macht: Wer sich öfter einsam fühlt, leidet auch stärker unter FOMO. Eine britische Studie aus dem Jahr 2013 bestätigt durchaus, dass der Druck der sozialen Medien zu Isolation oder Einsamkeit führen kann. Ein elender Teufelskreis: Denn eben genau das treibt einen wiederum aus Tristesse in die Fänge von Social Media.

Dabei muss man vielleicht eher realistisch als besonders selbstbewusst sein: Denn auch wenn die Feste auf Instagram rauschend aussehen, wer sagt, dass sie das nicht nur einen Song lang waren? Den Rest der Zeit die Musik schlecht war? Dass es nicht eine dieser Parties gewesen ist, nach der man mit flauem Magen aufwacht ohne besonders Spass gehabt zu haben?

Die Leute mögen zurück im Leben sein, nicht zurück zu sein, ist auch ok

Es ist nicht so, als hätte ich keine Lust mal wieder hemmungslos auf wackelnden Stühlen zu tanzen oder mir optisch mal wieder etwas mehr Mühe zu geben. Nur fühlen sich die Schuhe mit Absatz, die ich prä-Covid dreimal die Woche im Büro anhatte, plötzlich an wie himmelhoch verkleidet. Jeans erscheinen mir immer noch so schrecklich unnachgiebig. Mascara macht aus mir eine Kardashian. Gewisse Dinge möchte ich dann machen, wenn ich will. Und nicht nur, weil man jetzt wieder kann.

Lebt man jetzt wirklich bewusster, wie alle sagen? Wenn man erkannt hat, es geht auch ohne tägliche Dinner-Dates? Ohne den Kater am Wochenende? Ohne die vielen Geburtstagsfeste? Man kann sich fragen: Habe ich mich da früher in irgendwas reingezwungen, was mir gar nicht gefallen hat? Aber auch: Bin ich vielleicht einfach so langweilig?


Ich habe beschlossen, mich der FOMO zu stellen. Das Handy öfter wegzulegen und auf mich zu hören. Darauf zu beharren, dass ich Raven hasse, obwohl es alle tun. Oder es einfach mal zu machen. Wegen der Komfortzone. Vielleicht ist es wie Autofahren. Da ist man auch erstmal nervös, wenn man man es länger nicht gemacht hat. Und dann geht es überraschend gut und man fährt direkt zu schnell. Oder über rot. Alles kann, nichts muss.

Von lei am 10. Juni 2021 - 17:39 Uhr