Wir reisen im Zug…
von Berlin nach Hamburg. Wir nahmen den ersten ganz früh am Morgen. Er ist so voll, dass wir im Gang auf unseren Reisetaschen sitzen müssen. Dicht gedrängt. Wir sind unterwegs mit allen Hertha-BSC-Fans, die es auf der Welt gibt. Eine Freundin schickte mir letzte Woche ein Bild davon. Von uns. Wie wir im Jahr 2017 in einem überfüllten Waggon auf unserem Gepäck kauern. Unter den Achseln von fremden Fussballfans.
Szenen wie Science Fiction
Es zu sehen, löst Unbehagen in mir aus. Ein wenig wie in einem Horrorfilm. Nicht weil es mich daran erinnert, wie fest die Luft da drin war und wie es nach Bier und Schweiss gerochen hat (früh morgens) – die Welt ist heute eine andere. Ich habe die vielen unterschiedlichen Orte und Arten, wo und wie sich Menschen zufällig berühren können, vergessen.
Menschenmassen, Gedränge in Zügen und Fahrstühlen, zufällige Berührungen im Club – so etwas sieht man nur noch auf Bildern oder in Filmen. Es ist Science Fiction. Es sind Motive, genauso unangenehm anzuschauen wie die von dem Schuldigen – von dem Virus, der aussieht wie ein kleiner flauschiger, saugnäpfiger Planet aus einem Kinderbuch. Wird das jemals wieder anders sein, oder haben wir uns mittlerweile so sehr an die Distanz gewöhnt, dass Berührung völlig ins Private verlagert wird? Und: Was verpassen wir dann?
Berührung kann das Stresslevel senken
Wir verpassen…
Berührung ist seit eh und je zwiespältig. Sie kommt nah und leicht allzu nah. Sie ist verhasst, als Belästigung, als Übergriff, als Gewalt. Umso ersehnter ist sie als Zuwendung, Liebe, Zärtlichkeit. Ersehnt und damit dann auch nützlich. Berührungen senken den Cortisolspiegel und damit auch das Stresslevel. Und das ist wiederum auch ein Grund dafür, warum viele Menschen instinktiv die Hand einer anderen Person halten wollen, wenn sie Angst haben.
Ausserdem wurde herausgefunden, dass Berührungen, und zwar selbst ein einfaches Händeschütteln, das Stresslevel reduzieren, Vertrauen schaffen und Freundschaften bekräftigen kann. Es kann sogar Menschen dabei unterstützen, mehr Erfolg zu haben. Bei einer Studie der NBA wurde herausgefunden, dass Teams häufiger gewinnen, bei denen sich die Mitglieder vor dem Spiel berühren (Umarmungen, High Fives, Fist Bumps). Unter anderem natürlich.
Wir vergessen…
Berührung ist eigentlich also unerlässlich. Doch mittlerweile, während wir bei jedem öffentlichen Körperkontakt Vorsicht walten lassen, sehen wir Bilder aus der Vergangenheit, die plötzlich auf völlig neue Art gefährdend wirken. Wir sehen in einem Film, wie sich Menschen in einem Aufzug zusammendrängen oder in einer Werbung beisst einer neckisch vom Schokoriegel einer anderen ab – plötzlich ein gefährlicher Übergriff.
Es scheint eine Verschiebung der Codes gegeben zu haben. Dinge haben eine andere Bedeutung, und ganz normale Szenen wirken plötzlich irgendwie bedrückend und gefährlich. Unvorstellbar, in diesen vollen Lift zu steigen. Unvorstellbar, wieder einmal in einem engen Club zu tanzen, seine Gedanken zu verlieren und dabei zufällig andere zu berühren.
Wir erinnern uns…
Irgendwann hat die neue Gegenwart unsere Bilder verändert – die, auf denen wir in vollen Zügen auf unserem Gepäck kauern, werden seltener und wenn wir sie sehen, hinterlassen sie ein mulmiges Gefühl. Und irgendwann wird auch diese Gegenwart wieder fremd aussehen. Wie gross der Ausnahmezustand auch sein mag, die Welt musste sich nicht zum ersten Mal neu erfinden. Und die nächste Champions League kommt bestimmt.