Der Film «Lovemobil» erscheint auf den ersten Blick wie eine emotionale, ehrliche Dokumentation, die uns einzigartige Einblicke in eine eher isolierte Welt liefert. Er handelt vom Leben der Frauen, die sich entlang deutscher Bundesstrassen in Wohnmobilen prostituieren und erzählt von Misshandlungen, finanziellen Problemen und Streitigkeiten mit Vermietern. Grundsätzlich ein spannender Kino-Dokumentarfilm, der weltweit auf Film Festivals lief, preisgekrönt und vom Norddeutschen Rundfunk (NDR) mit produziert wurde. Das Problem dabei: Die Protagonistinnen und Freier sind nicht echt. Es sind engagierte Schauspieler und Schauspielerinnen.
Das Reportageformat STRG_F hat jenste Inszenierungen des Films aufgedeckt. Elke Margarete Lehrenkrauss, Regiesseurin von «Lovemobil», sagte daraufhin in einem Interview, sie hätte es versäumt, den NDR über die Inszenierungen zu informieren. Das bereue sie, aber der NDR hätte auch nicht nach der Authentizität gefragt. Der NDR bestreitet diese Vorwürfe.
Wie viel Authentizität steckt in nachgestellter Wirklichkeit?
Doch ganz egal, wer Recht hat: Fakt ist, der vermeintliche Dokumentarfilm wurde mit inszenierten Darstellungen aufgebrezelt – und passt damit nicht mehr so ganz ins Genre des Dokumentarfilms. Als Zuschauer*in erwartet man von diesem nämlich Ehrlichkeit, Realität und Wahrheit, geniesst das Eintauchen in eine bisher unbekannte Welt, das Aneignen von neuem Wissen.
Wikipedia fasst es in einen Satz zusammen: «An einen Dokumentarfilm wird der Anspruch erhoben, authentisch zu sein.» Heisst also, der Film sollte glaubwürdig und den Tatsachen entsprechend sein. Da könnte die Regisseurin Lehrenkrauss jetzt natürlich argumentieren, der Film würde diese Kriterien durchaus erfüllen. Schliesslich ist er glaubwürdig und dank jahrelanger Recherche auf diesem Gebiet (die es übrigens tatsächlich gegeben haben soll) durchaus den Tatsachen entsprechend. Es handele sich also um eine Art nachgestellte Wahrheit.
Da drängt sich aber die Frage auf, wie viel Wirklichkeit denn tatsächlich noch in nachgestellter Wahrheit steckt. «Ich kann mir auf jeden Fall nicht vorwerfen, die Realität verfälscht zu haben», sagt Lehrenkrauss in einem Interview. «Weil diese Realität, die ich in dem Film geschaffen habe, ist eine viel authentischere Realität.» Aber kann eine inszenierte Realität authentischer sein, als die tatsächliche Abbildung der Wirklichkeit? Sind das schlussendlich nicht einfach Fake News?
Spielfilm und Dokumentation verfliessen
Der Fall des Streifens «Lovemobil» regt zum Nachdenken an. Ob noch andere Dokumentationen manchmal mit inszenierten Situationen dramatisiert werden, damit Zuschauer*innen ein «authentischeres» Bild der vermeintlichen Wahrheit kriegen? Mit der Doku «Seaspiracy» hat Netflix neulich (mal wieder) einen viralen Hit gelandet. Der Film begleitet einen jungen Filmemacher auf seinen Reportagen durch die Fischindustrie und zeigt das Aussterben der Unterwasserwelt.
Die Dokumentation berührt, zeigt unfassbare Eindrücke und ist dazu perfekt mit exklusiven Aussagen von Betroffenen wie Sklavenarbeitern aus der Fischerei ausgestattet. Der Film reisst mit, hat packende Musik, emotionale Tief- und Höhepunkte und zeigt Bilder, die im Kopf bleiben. Und obwohl «Seaspiracy» nicht inszeniert ist (jedenfalls nicht, dass man es wüsste), erinnert eben diese Darstellungsart an die eines in Hollywood produzierten Spielfilms. Man wird das Gefühl nicht los, dass Dokumentar- und Spielfilm sich in der Dramaturgie zunehmend ähneln. Und trotzdem sollte – vor allem dem Publikum zuliebe – nach wie vor klar sein: Spielfilm ist Fiktion, Dokumentarfilm ist Wahrheit.
Transparenz ist gefragt – oder ein anderes Genre
Die Inszenierungen im Film «Lovemobil» scheinen im Nachhinein nahezu offensichtlich. Wie sollte es möglich sein, dass die Filmcrew jedes entscheidende Ereignis im Alltag der Protagonistinnen auf Kamera festhalten konnte? Das ist selbst für die besten Produzent*innen unmöglich – erst recht im Bereich der Sexarbeit.
Allgemein sollte man nachgestellte Momente für Zuschauer*innen ersichtlich machen, beispielsweise einen transparenten Hinweis am Anfang des Films einblenden: «Gewisse Szenen wurden in diesem Film nachgestellt.» Ein kurzer, einfacher Satz und das Thema ist gegessen. Oder man publiziert das Ganze unter dem Genre «Spielfilm» statt «Dokumentation».
Hinterfragt ihr die Wahrheit von Dokumentationsfilmen manchmal? Erzählt uns eure Gedanken in den Kommentaren.