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Mit Neuem zurück zu alten Traditionen

Wie Netflix uns bei Entscheidungsmüdigkeit helfen will

Netflix testet aktuell lineares Fernsehen und langsam aber sicher steht Weihnachten mit altbekannten Traditionen vor der Tür. Zum Glück. Schliesslich waren wir schon lange nicht mehr so entscheidungsmüde wie jetzt.

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Tired and sleepy woman working in front of laptop till late in office

Zu viel ist zu viel! Wir. Sind. Müde.

Getty Images

Könnt ihr euch noch an eine Welt ohne Streaming-Dienste erinnern? Als wir noch die Zeitung nach dem TV-Programm durchforstet haben. Als wir die alten Kassetten ausgemistet und mit DVDs ersetzt haben. Als wir jede Woche am gleichen Tag zur gleichen Zeit einen Sprint auf dem Heimweg hingelegt haben, um die Lieblingsserie nicht zu verpassen. Ja, da können wir heute nur noch drüber lachen. Schliesslich liefern Netflix, Disney+, Amazon Prime und Co. alles, was das Film- und Serien-Herz begehrt. Wo und wann immer wir wollen. 

Netflix will Entlasten

Das klingt jetzt alles erstmal traumhaft bequem und unkompliziert. Doch so einfach ist das nicht. Leider. Sind nämlich die Möglichkeiten grenzenlos, so erwarten uns gleichzeitig auch grenzenlos viele Entscheidungen, die gefällt werden müssen. Welchen Film sollen wir schauen? Ziehen wir uns noch eine Folge rein? Oder sollten wir langsam schlafen? Und was ist, wenn wir einen langweiligen Film auswählen und stattdessen etwas viel Cooleres verpassen? Fragen über Fragen. Aber keine Sorge: Netflix will uns aus der Patsche helfen. Oder zumindest den Franzosen und Französinnen. Die testen nämlich gerade «Netflix Direct», einen ganz herkömmlichen, linearen Fernsehkanal, der den Abonnenten seit Anfang November zur Verfügung steht. Laut dem Tagesanzeiger schreibt Netflix in der Medienmitteilung: «Vielleicht sind Sie nicht in der Stimmung, sich zu entscheiden, oder Sie möchten einfach von etwas Neuem überrascht werden.» Ups, da habt ihr uns eiskalt erwischt. Denn in der Stimmung zum Entscheiden, sind wir momentan überhaupt nicht.

Entscheidungen wohin das Auge, äh, der Finger reicht

Keine Sorge, ihr müsst euch dafür nicht schämen. Schliesslich verlangt unser Alltag so viele Entscheidungen, wie nie zuvor. Und das in allen Lebensbereichen. Haben wir früher beispielsweise noch begeistert in die Tastatur eines 40 Zentimeter dicken Computers gehauen, weil wir erstmals online über MSN chatten konnten, müssen wir uns heute erstmal entscheiden, wo und wie wir überhaupt kommunizieren wollen. Whatsapp, Snapchat, Instagram, Facebook, Tiktok, Facetime, oder doch lieber Skype? Die Auswahl ist riesig. Das gleiche gilt für Tinder-Profile, die unser Hirn in Sekundenschnelle analysiert und der Finger mindestens genauso schnell wieder wegwischt. Nicht zu vergessen die ganzen Online-Shops, in denen wir täglich rumstöbern.

ISTANBUL, TURKEY - JULY 29:  In this photo illustration, social media apps are seen on a mobile phone on July 29, 2020 in Istanbul, Turkey. Turkey's parliament passed a new law Wednesday, to regulate social media content. The law will require foreign social media companies to have an appointed Turkish-based representative to deal with any concerns authorities have over content.  (Photo by Chris McGrath/Getty Images)

Gar nicht so einfach: Worauf klickt der Finger als nächstes? Und was, wenn es die falsche Wahl war?

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Toll, was man im World Wide Web alles so suchen und finden kann. Wäre da bloss nicht diese Angst, die falsche Wahl zu treffen. Denn natürlich steigt bei grossem Angebot die Chance, dass etwas Passendes dabei ist. Aber genauso steigt das Risiko, es nicht zu finden.

Kleine Entscheidung, grosse Angst

Der innerliche Zusammenbruch, den wir nach stundenlangem Durchforsten von Angeboten erleben, hat einen Namen: Entscheidungsmüdigkeit. Oder wie es die Fachpersonen gerne nennen: «Decision fatigue». Die zu grosse Auswahl macht uns verrückt und erschöpft. Der Kopf wird in kürzester Zeit mit so vielen Informationen konfrontiert, dass er am Ende schlichtweg keine Energie mehr hat, um überhaupt irgendetwas zu tun. Und plötzlich scheint die banale Aufgabe, einen Film, eine App, ein Tinder-Date oder ein Produkt im Online-Shop auszuwählen, wie eine verdammt schwerwiegende Entscheidung.

Das liegt allerdings nicht nur an der Angst, die falsche Wahl zu treffen. Das Ganze ist nämlich auch eine Sache der Selbstbeherrschung. Beispielsweise muss man sich selbst schon ziemlich im Griff haben, wenn man nach nur einer einzigen Folge der Lieblingsserie den Fernsehen tatsächlich wieder ausmacht. Oder wenn man sich für eine einzige App zum Kommunizieren entscheidet, statt das Angebot von mehreren Plattformen zu nutzen. Denn sind wir ehrlich: Wir sind schwach. Die FOMO («fear of missing out», zu Deutsch: Die Angst, etwas zu verpassen) hat uns fest im Griff. Deshalb müssen wir uns immer wieder gezielt zusammenreissen, um nicht schon wieder eine Stunde auf Tinder, Netflix und Co. zu verplempern. Das kostet Nerven und Energie und zack – schon sind wir müde. Entscheidungsmüde.

Traditionen eilen zur Hilfe

Wir sind Netflix ja ziemlich dankbar, dass es den Franzosen und Französinnen (und vielleicht ja auch bald uns) mit dem altbekannten, linearen Fernsehen aus der Patsche helfen will. Diese Taktik hat sich nämlich als einzig wirklich sinnvolles Hilfsmittel gegen Entscheidungsmüdigkeit etabliert. Denn mit alten Traditionen können wir vor neuen Entscheidungen flüchten. Praktisch, oder? Das Angebot an Serien soll ja nicht kleiner werden. Wir brauchen lediglich etwas Unterstützung beim Fällen von Entscheiden. Da kommt uns beispielsweise das erste Schweizer Streaming-Magazin ganz recht. Das liegt als physisch existierendes Heftli am Kiosk und verrät Hintergrundinfos über die neusten Serien und Filme. Es hilft uns also, eine Entscheidung zu fällen, lässt das grosse Angebot aber nicht verschwinden.

Übrigens gilt diese Herangehensweise auch für die kommende Adventszeit: Haltet euch an Traditionen (minus ein paar Gäste) und ihr könnt die Weihnachtszeit ohne grosses Entscheiden geniessen. Schafft euch Routinen. Und blättert mal wieder durch Programm-Magazine.

Was ist euer Rezept gegen Entscheidungsmüdigkeit? Teilt es mit uns in den Kommentaren.

Von Lara Zehnder am 22. November 2020 - 16:09 Uhr