Folgender Text enthält Spoiler zum Film «Promising Young Woman».
«Ein heisses Häufchen Elend» – das spielt Cassandra (ihrerseits gespielt von Schauspielerin Carey Mulligan). Sie inszeniert die betrunkene, naive Frau. Entscheidet sich, sich abschleppen, mit nach Hause nehmen, aufdringlich berühren, bedrängen, begrapschen, ausziehen zu lassen.
Bis zu einem gewissen Punkt, den sie definiert, an dem sie es beendet, weil es Zeit für ihre Lektion ist. Cassandra ist auf einmal nüchtern, bei klarem Verstand und konfrontiert die Männer mit eisiger Stimme mit dem Übergriff, den sie begehen, wenn sie einer vermeintlich sturzbetrunkenen Frau den Slip runterziehen: «Was. Tust. Du. Da?»
Der Film «Promising Young Woman» ist das Regiedebüt von Emerals Fennell, kommt voraussichtlich am 13. Mai in die Kinos, hat am 25. April einen Oscar bekommen (bestes Originaldrehbuch), war für vier weitere nominiert (Bester Film, Beste Regie, Bester Schnitt und Beste Hauptdarstellerin).
Vergewaltigung, Rache, Genugtuung, Erlösung?
Cassie ist 29 Jahre alt. Hauptberuflich ist sie Barista. Ihre Haupttätigkeit ist aber: Vergewaltigern Lektionen erteilen. Sie verkörpert also die Hauptrolle in einem Rape-Revenge-Film. Einer zeitgemässen Version in einer lange Reihe von Filmen, die die Vergewaltigung einer Frau ins Zentrum ihrer Story stellen und zum emotionalen Katalysator machen («I Spit On Your Grave», 1978, «Taken», 2008).
Hier rächt nun Cassie ihre Freundin Nina, die nach einer Vergewaltigung durch Kommilitonen Suizid begangen hat (Vermutung der Redaktion. Ihre genaue Todesursache wird nicht aufgeklärt). Dafür lebt Cassie. Für nichts anderes. Jeden Mann, dem sie eine Lektion erteilt hat, vermerkt Cassie auf einer Strichliste. Die Liste ist lang.
Rache ist das Handlungsmotiv. Pastellfarben und poppig die Optik. Der Soundtrack besteht aus Hits von Sängerinnen aus den Achtzigern bis in die Nullerjahre. «Toxic» (Britney Spears). «Stars are Blind» (Paris Hilton).
Keine Zeit zu heilen
Viel erfährt man über Nina nicht. Über Cassie auch nicht. Es passiert, was in so vielen Filmen dieses Genres passiert. Ausschliesslich dieser eine Moment definiert die betroffene Figur. Dieser eine Moment macht aus ihr eine Femme Fatale, bestärkt und befähigt sie zu Rache, angetrieben von der Wut. Ohne Angst.
Über die Vergeltung hinaus ist da nichts mehr – so wird die Hauptfigur am Ende ihres Rachefeldzugs ausgelöscht. Heilung, Wachstum können in der Kürze der Zeit und des Filmes nicht stattfinden oder werden zumindest nicht thematisiert.
Ein gutes Leben, ist die beste Rache
Anders ist das bei Serien, die sich im Genre von «Promising Young Woman» bewegen. Beispiel: «I May Destroy You» (2020, via Sky). Das Trauma bildet auch da den zentralen Handlungspunkt. Das versucht Arabella (gespielt von Michaela Coel) zu überwinden.
So unterschiedlich die Milieus und Hauptfiguren in Film und Serie sind, so gleichermassen erschütternd sind beide Produktionen. In beiden Fällen wird der Missbrauch selbst nicht gezeigt. Bei «I May Destroy You» tauchen lediglich nach und nach Fetzen der Tat im Gedächtnis der Hauptdarstellerin auf: Gesichter, Details von Räumen oder Geräusche.
Wie weiter?
Wie auch im Film kommt es im Finale der Serie zur Konfrontation zwischen der Hauptfigur und dem Vergewaltiger. Im Film gibt sie sich schliesslich komplett auf, fordert ihren eigenen Tod heraus, damit er endlich zur Rechenschaft gezogen wird. Die Serie gibt gleich drei mögliche Endszenarien. Rache? Vergebung? Versuchen so gut wie möglich weiterzuleben?
Beide Produktionen greifen auf ihre Weise die Frage auf, was auf ein solches Trauma folgt, wie man ein solches bewältigen kann. Sie stellen zumindest die Frage. Sie abschliessend zu beantworten – bedarf sicher mehr als zwölf Folgen einer Fernsehserie oder einen Spielfilm.