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  4. Trend nach Corona: spirituell konsumieren

Wenig ist nicht genug

Wir konsumieren mehr denn je – dafür mit Tiefe

Plötzlich muss alles eine tiefere Bedeutung haben. Alles, was man konsumiert – was man kauft, was man sich anschaut. Von Netflix-Serien, Trash-TV und Online-Shops.

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Kristalle: Trend Shopping auf spirituell

Schutzengel sollen Liebeskummer abwehren, Mondsteine böse Träume verscheuchen, und Handauflegen soll die Karriere fördern. Wie der Philosoph Walter Benjamin sagte: «Der Kapitalismus dient essenziell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen und Spirituelles Antwort gaben.»

Getty Images/EyeEm Premium

Esoterikprodukte haben Hochkonjunktur. Serien über Spiritualität und alternative Heilmethoden super Einschaltquoten. Sogar bei Trash-TV geht es jetzt um die unterhaltsame Suche nach dem wahren Ich. Es folgt eine Reise durch die Streaming-Produktionen und Webshops, die zeigen, dass Einkaufen ein bedeutungsvoller Akt sein kann.

Politik im Einkaufswagen

Das waren noch Zeiten, als man wie wild und ganz unbedacht draufloskonsumieren oder sich berieseln lassen konnte und sich – ohne gross darüber nachzudenken – die neueste Version von irgendetwas gegönnt hat. Doch dann kamen solch unsexy Begriffe wie: Verantwortungsbewusstsein. Konsum hat sich zu einer richtig komplizierten Angelegenheit entwickelt. Was man kauft, in welche Statussymbole man investiert, damit trifft man heute viel komplexere Aussagen als «Ich habe Geld». Es herrscht grosser, persönlicher Druck auf Kaufentscheidungen.

Wer es sich leisten kann, trägt nicht nur Wertvolles und Geschmack nach aussen, sondern auch innere Überzeugungen und eine Haltung. Es ist jetzt Politik mit dem Einkaufswagen. Aufs Budget zu achten, das ist nichts Neues. Auch bewusst und damit weniger zu konsumieren, ist ein Konzept, das sich mittlerweile rumgesprochen hat. Es scheint langsam ins breite Bewusstsein gerückt zu sein, was Aktivist*innen seit Jahren wiederholen: Ständiges Lädele zerstört die Umwelt. Aber übers Denken hinaus, hat es das Bewusstsein tendenziell und gemäss einer aktuellen Konsumstudie (via Tagesanzeiger) noch nicht geschafft.

Dennoch: Die Umweltschutzorganisation WWF Schweiz hat im Jahr 2018 in einer Studie herausgefunden: Neun von zehn Schweizerinnen und Schweizern denken zumindest mal darüber nach, ihren Konsum zu reduzieren. Die denken darüber nach. Da ist er, dieser gelobte Minimalismus. Denn wenig soll ja eigentlich genug sein. Ist es aber nicht. Es geht nämlich nicht nur um die Häufigkeit, sondern auch um die Art des Konsumaktes.

Die magische Reinigung

Als Minimalismus-Verfechterin hat sich die japanische Aufräumexpertin Marie Kondo einen Namen gemacht. Gemäss ihrer Philosophie ist der Konsumwahn natürlich schlimm. Der verstopft Schränke und Kommoden – und damit die Wege zu unserem Glück, Erfolg, Frieden. Nach ihren Büchern (zum Beispiel «Magic Cleaning») forderte sie Anfang 2019 auch via Netflix («Aufräumen mit Marie Kondo») alle dazu auf, sich doch von allem zu entledigen, bei dessen Anblick man nicht vor Freude sprüht. Und dann eröffnete sie einen Onlineshop.

Sich selig kaufen

Kondo reverse, quasi. Die Schränke und Kommoden sind ja jetzt leer. Zeit, sie wieder zu füllen. Aber nur mit Bedeutungsvollem, versteht sich (und nur das gibt es auf konmari.com). Warum also kein Set aus Stimmgabel und Rosenquarz erwerben? Oder einen kleinen Spray, der den Mund mit der Aufschrift «Everlasting Love Romance» allerdings ganz schön voll nimmt. Oder einen Mini-Zen-Garten. Weil: Warum nicht?

Die Marie Kondo des weiblichen Körpers

Die philosophische Aufladung des Aufräumens, das dank Marie Kondo nicht mehr Mühsal, sondern Befreiung ist, war nämlich nur die eine Seite, nur der Anfang. Der weitere Teil der Kondo-Saga besagt: «Das Ziel des Aufräumens ist es nicht bloss, die Dinge loszuwerden, sondern die Sensibilität zu erhöhen für anderes, das Freude entfacht, und Raum zu schaffen für Objekte, Menschen und Erfahrungen mit Bedeutung» (siehe Website). 

Die Japanerin ist jedoch lange nicht die einzige medienrelevante Persönlichkeit, die dem Konsum eine tiefere Bedeutung verleiht. Da wäre natürlich auch die Marie Kondo des weiblichen Körpers: Gwyneth Paltrow. Mittlerweile ebenfalls mit – selbst produzierter – Netflix-Serie («The Goop Lab», 2019). Zuschauerinnen und Zuschauer erwartet: Selbstoptimierung in Pastell.

Religiöser Eifer

Sechs Folgen mit «Sei gut zu dir selbst»-Vibes. Der vorläufige Höhepunkt des Lifestyle-Unternehmens. Paltrow, die mit Esoterikprodukten schon seit Jahren ausgesprochen erfolgreich am Markt ist, verspricht Heilung. Und zwar ein für alle Mal. Die oscargekrönte Schauspielerin (1999 für «Shakespeare in Love») lädt dazu Expertinnen und Experten aus allen Bereichen der menschlichen Vorstellungskraft zu sich ein. 

Im hippen Goop-Firmensitz im kalifornischen Santa Monica lässt sie sich von ihnen erzählen, wie sie durch psychedelische Pilze, Baden in Eiswasser, Orgasmen, Tütennahrung und Kontaktaufnahme mit Verstorbenen angeblich heilen. Wer daran glaubt, der wird die Produktion mit religiösem Eifer verfolgen und danach ein paar Produkte bestellen – wer nicht, kann immerhin einschalten, um zu spotten. Für jeden was dabei.

Kauf dich glücklich

Und auch wenn das dritte Beispiel des zeitgemässen Konsums im Vergleich zu Kondo und Paltrow etwas weniger explizit spirituell ist, soll auch hier vor allem geheilt werden: «Queer Eye». Die fünfte Staffel der Show läuft seit Anfang Juni auf Netflix. Das Konzept stammt noch aus einer Zeit der hemmungslosen Konsumkultur, Anfang der Nullerjahre.

Dementsprechend scheint die Philosophie auch eine Art «Kauf dich glücklich» zu sein, die aussagt: Mit der richtigen Garderobe, den richtigen Möbeln, ein bisschen Anti-Aging-Creme und Eintrittskarten für ein Museum wird alles gut. Vordergründig handelt es sich also um eine klassische Make-Over-Doku, in der fünf homosexuelle Männer einen unglücklichen Hetero wieder auf Vordermann bringen, ihm zeigen, wie man sich ordentlich anzieht und stylt, eine Guacamole zubereitet und die Wohnung nicht verwahrlosen lässt. Aber eben nur vordergründig.

Die emotionale Stärke der Show «Queer Eye» zeigt sich in dem Moment, in dem der Hetero in Tränen ausbricht und seinen fünf Mentoren befreit in die Arme sinkt. Verblüfft über die Veränderung seines Aussehens, seiner Wohnung und über die paar vergangenen Tage, während derer ihm fünf Männer völlig ironiefrei immer wieder gesagt haben, wie «gorgeous» und «handsome» er sei. Wieder einmal zu hören, dass man eben begehrenswert sei, und sich nach dem Umstyling und dem Blick in den Spiegel endlich auch wieder mal so zu fühlen, bricht bei den meisten alle Dämme. Zuschauende kommen also auf mehreren Ebenen auf ihre Kosten. 

Einfach nur ein neuer Kleiderschrank, das wäre ja langweilig und so «last season». Wir erwarten viel tiefer reichende Veränderungen. Äusserlich und innerlich. So dürfen auch Reality-Trash-TV-Formate nicht einfach flach oder – sagen wir – nicht ganz so flach und konzeptlos bleiben wie früher. Beispiel: «Too Hot to Handle». Die Serie stand in der Schweiz praktisch den gesamten Mai durch auf Platz eins der beliebtesten Shows. Deren Konzept hat Konsument und Konsumentin von heute also überzeugt.

Mehr als bedeutungsloser Sex

Die Kandidatinnen und Kandidaten dieser Show sind sogenannte «Swipers»: die schlimmsten Auswüchse modernen Datings. Diejenigen, die auf Tinder oder anderen Plattformen umherwischen und bedeutungslosen Sex haben. Auf einer einsamen Insel sollen die Singles dieser Oberflächlichkeit jetzt aber abschwören und eine tiefe, innere Verbindung zueinander aufbauen. Damit das gelingt, gilt: Kuss- und Sexverbot. Und relativ schnell wird klar, was die Teilnehmenden eigentlich wollen: geliebt werden. Sie alle sind irgendwann einmal verletzt worden, haben eine Mauer um sich herum aufgebaut und wollen, dass nun die wahre Liebe vorbeikommt und sie wieder niederreisst. Schöne Message eigentlich. «Big Brother» in deep. Oder zumindest in etwas deeper.

Mainstream-Spiritualität

Wir verlangen also – gemessen an Erfolgen von Marie Kondo oder all diesen vermeintlich emotional tief greifenden Shows – bei unserem Konsum nach mehr Tiefe. Sogar nach Spiritualität. Teilweise. Bei dieser – nennen wir sie Mainstream-Spiritualität – geht es aber nicht um die Erkenntnis, was die Welt denn eigentlich so im Innersten zusammenhält, sondern meistens um die Erforschung des eigenen Egos. Das ist aber auch okay. Und vermutlich immer noch besser als blinder Konsumwahn.

Von Rahel Zingg am 1. Juli 2020 - 16:10 Uhr