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  4. Warum wir uns immer so alt wie unser Umfeld fühlen

Alter schützt vor Torheit nicht

Von der beflügelnden Wirkung jüngerer Freunde

Es ist seltsam: In der Gesellschaft Gleichaltriger fühle ich mich ... irgendwie morsch. Zwischen jungen Hüpfern dagegen durchaus dynamisch. Eine Lobeshymne auf den Kopf, der einen da so herrlich austrickst. Oder tut er das gar nicht?

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Three women cover their heads with paper bags while sunbathing so teachers will not recognize them, since they should be attending classes.

Spiegeln wir uns in unseren Mitmenschen?

Bettmann Archive

Letztens sass ich im Grünen. Umringt von Freundinnen, die ich seit dem Kindergarten kenne – seit 30 Jahren also. Ich hatte ein Kind auf dem Schoss (nicht meins, ich habe nämlich keins) und scrollte mit selbigem durch Fotos. Aufgeregt kreischte das kleine Ding plötzlich: «Mama, schau, das bist du, als du noch jung warst!» Ich war entsetzt, aber zu traurig das kindgerecht zu formulieren, und wimmerte nur mau: «Deine Mama ist doch immer noch jung ...». Wenn besagte Mutter nämlich so steinalt ist, bin ich es auch. Nur irgendwie merke ich das selbst so selten.

Erst fand ich diese Fünfjährige unverschämt. Zugegebenermassen ist sie aber eben tatsächlich um einiges jünger als ich und meinte es vermutlich nicht böse. Oder wusste nicht, dass sie da einen wunden Punkt trifft. Wie es wohl die Mutter so fand, fragte ich mich. Ist es, wenn man Kinder hat, weniger schlimm älter zu werden, weil man mit etwas mitwächst – einem oder mehreren Wesen? Ich dagegen gedeihe nur mit mir selbst. Und weil ich mich so stark darauf konzentrieren kann, fühlt es sich eher nach Verderben an.
Fakt ist: In Gesellschaft Gleichaltriger fühle ich mich verdammt alt. Liegt es wohl daran, dass die meisten in meinem Alter eine Familie gegründet haben und mich dieser Vergleich aus der sonst so geschmeidigen Bahn wirft? Die haben mit Mitte 30 was geschafft (oder eher: geschaffen) und ich ... ich lebe eben immer noch wie mit Mitte Zwanzig – wild and free, nur mit mehr Geld, Komfort, Sorgen und deutlich weniger Feier-Wut in mir. Ist es das? Oder triggert mich der Blick in die ebenso zerknitterten (aber natürlich wunderschönen) Gesichter? Lächeln mich dagegen nämlich Mittzwanziger an, strahle ich motiviert mit.

Tipp: Besser in ein hübsches Gesicht als in den Spiegel schauen

Ich habe eine Freundin, die findet Taylor Swift wahnsinnig schön. Sieht sie ein Musikvideo vom blonden Pop-Bonbon, fühlt sie sich automatisch auch schön. Und ist sie auf einer Party, die bis obenhin rappelvoll mit attraktiven Menschen ist, fühlt sie sich ganz intuitiv genauso umwerfend. Ich habe das immer bewundert. Die lässt sich absolut nicht einschüchtern, zieht gar keine Rückschlüsse auf sich selbst, nimmt die schimmernde Glorie der andern einfach mit, dachte ich. Dabei macht das durchaus Sinn, sagt Ben Kneubühler, Fachpsychologe für Psychotherapie: «Wenn wir von schönen Menschen umgeben sind, fühlen wir uns dieser Gruppe zugehörig und bewerten und übernehmen die Sicht, die andere von der Gruppe haben. So fühlen wir uns dann ebenfalls schön.» Wendet mein Hirn die gleiche Taktik an – bezogen auf ein jüngeres Umfeld?

Dabei müsste ich mich ja selbst wahrnehmen wie ein Greis am Stock, wenn ich mit meiner elf Jahre jüngeren Arbeitskollegin in der Badi drei Aperol Spritz kippe. Da hockt mir ein knackiger Körper, ein unverbrauchter Geist, ein Kopf, dem vermutlich auch zwei Spritz mehr nichts anhaben könnten, gegenüber. Aber nein, für mich ist das fantastisch. «Man könnte meinen, man müsse sich im Vergleich zu den Jüngeren älter fühlen. Dies passiert aber nicht, weil das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe stärker ins Gewicht fällt, wenn wir unser Alter bewerten und fühlen», so Kneubühler.

Bin ich peinlich?

Mache ich mir da was vor? Ja, klar. Aber ist das schlimm, wenn ich offensichtlich lieber zu den jungen Wilden als zu den jungen Eltern gehören will? Nö, ich finde nicht. «Ob optimistische Schönrederei oder Betrug – es handelt sich um Beispiele der Gruppenpsychologie. Der Drang, einer Gruppe anzugehören, mag je nach Lebensalter und Charakter unterschiedlich sein, aber grundsätzlich sind wir Herdentiere und erkennen uns selbst über unser Gegenüber», erklärt der Psychologe. So suhle ich mich weiter in der Unbeschwertheit derer, die noch nicht oder knapp über dreissig sind. Weil unsere Leben trotz Altersunterschied vielleicht kompatibler sind und man ja bekanntlich immer nur so alt ist, wie man sich fühlt. Nun habe ich bis auf einen grauen Hinterkopf keinerlei körperliche Beschwerden und der Drang, ein Haus zu bauen, hält sich ebenfalls in Grenzen. Sind meine jüngeren Freunde also mein fleischgewordener Jungbrunnen? Mein Hyaluron-Filler fürs Gehirn? Das, was beim Cougar der Toyboy ist? «Allzu sehr lässt sich das Gefühl aber nicht strapazieren, spätestens beim Blick in den Spiegel werden wir uns bewusst, wie alt wir wirklich sind.» Na gut, Herr Kneubühler. Sie sind ein Spielverderber.

Von Linda Leitner am 14. Juli 2020 - 15:53 Uhr